Über das Dilemma liberaler Politik: Nicht die Diskriminierten sind schuld am Populismus

Unsere liberale Demokratie scheint sich in einem großen Dilemma zu befinden: Die Bereitschaft vieler Menschen ist gestiegen, sich öffentlich zu streng-konservativen bis autoritären Haltungen zu bekennen, entsprechende politische Forderungen zu formulieren und auch dazu passende Parteien zu wählen. Der Populismus führt zu aufgeheizten Debatten, wir leben immer mehr in einer gespaltenen Gesellschaft. Das Dilemma scheint darin zu bestehen, dass gesellschaftlicher Fortschritt als eine Triebfeder der liberalen Demokratie kaum mehr möglich erscheint, weil jede fortschrittliche Initiative die Spaltung erhöht und damit die erbitterte Gegenwehr. Mehr Liberalität führt demnach leicht zum Gegenteil.

Immer häufiger ist zu hören, dass für den neuen Populismus und den Erfolg der AfD die liberalen Eliten zu einem Großteil verantwortlich sind. Diese betrieben zu viel „Identitätspolitik“, was so viel bedeutet, dass sie die Bedürfnisse einzelner z.B. kultureller oder ethnischer Gruppen oder sexueller Minderheiten zu sehr in den Vordergrund rückten. Gerne wird auch vor den Zuständen in den USA gewarnt: Die Wahl Trumps habe ja gezeigt, wohin das führen kann, wenn man zu viel über All-Gender-Toiletten und zu wenig über das Leben der „normalen“ Menschen rede.

Diese Argumentation wird zunehmend auch für die Erklärung der deutschen Verhältnisse genutzt. Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit als Präsident des Bundesverfassungsgerichts gab Andreas Voßkuhle der Wochenzeitung DIE ZEIT ein Interview, in dem er, so die Zeitung, „Bilanz zieht“. Zur Bilanz der protokollarisch damals noch fünf-höchsten Person im Staat gehörte auch diese Erkenntnis:

ZEIT: Wie erklären Sie sich den Anstieg des Populismus, der mit ihrer Amtszeit zusammenfällt?

Voßkule: Das ist eine Frage, über die wir lange reden könnten. Ein wichtiger Aspekt ist, dass die liberale Elite die – wenn sie so wollen – normalen Menschen aus dem Blick verloren hat.

ZEIT: Woran machen Sie das fest?

Voßkuhle: Das ist die Wahrnehmung aus den Gesprächen, die ich führe. Viele Menschen haben das Gefühl, mit ihren Problemen alleine gelassen zu werden. Sie haben den Eindruck, dass ihre Interessen nicht hinreichend berücksichtigt werden.

ZEIT: Ein Problem der liberalen Eliten?

Voßkuhle: Nicht ausschließlich. Aber die liberalen Eliten interessieren sich offensichtlich häufig eher für die Menschen, die offensichtlich diskriminiert werden. Das ist auch wichtig und richtig und da machen wir gute Fortschritte. Aber darüber darf man die anderen nicht aus dem Blick verlieren, die große Mitte, all jene, die nicht offensichtlich benachteiligt sind, sondern unter dem Radar ein normales Leben führen.

Ich finde, dass diese Interviewpassage den gesellschaftspolitischen Rückstand in diesem Land ziemlich gut erklärt. Aber nicht, weil Voßkuhle recht hat. Sondern, im Gegenteil, weil er ziemlich großen Unsinn erzählt aber damit eine attraktive Erzählung anbietet, die den Rückstand legitimiert.

Auch wenn es immer wieder behauptet wird: Dass dieses Land zu viel und damit dauernd über Minderheiten redet, ist falsch. In Wahrheit hat es damit noch gar nicht angefangen. In Deutschland wird Liberalität gerne mit Gleichgültigkeit und Ignoranz verwechselt. Die Ehe für alle passierte nebenbei, weil sie der Mehrheitsgesellschaft aber auch in liberalen Kreisen ziemlich egal war. Anders als in anderen westlichen Ländern haben wir in Deutschlands Unternehmen keine substantielle Diversity-Kultur, ja wir bekommen nicht einmal die Repräsentanz von Frauen in Führungspostionen einigermaßen hin. Die mittlerweile erhöhte Sichtbarkeit von trans* Menschen im deutschen Unterhaltungsfernsehen (und dass diese für breite Massen offensichtlich kein Problem darstellt) hat nicht zur Folge, dass sich irgendjemand nennenswert für deren Rechte interessiert.

Auch eine angemessene Debatte über den strukturellen Rassismus hat in Deutschland bisher noch nie stattgefunden, denn diese würde bedingen, dass nicht nur die von Rassismus direkt Betroffenen in der Lage sind einzuräumen, dass Rassismus überall ist, dass wir alle und nicht nur die anderen Teil des Problems sind. (Wer noch Nachholbedarf hat strukturellen Rassismus zu verstehen, der lese u.a. hier bei Saraya Gomis.)

Dass wir noch gar nicht angefangen haben, über Rassismus zu reden, zeigt sich exemplarisch am Selbstbild des Deutschen Fußballbundes, des größten aller deutschen Vereine, der tatsächlich glaubt, nichts mit Rassismus zu tun zu haben. Vor allem aber zeigt es sich daran, dass ihm bei dieser Selbstverklärung so gut wie nicht widersprochen wurde (aus einer Presseerklärung anlässlich der Diskussion um den ehemaligen Nationalspieler Özil 2018):

Dass der DFB mit Rassismus in Verbindung gebracht wird, weisen wir aber mit Blick auf seine Repräsentanten, Mitarbeiter, die Vereine, die Leistungen der Millionen Ehrenamtlichen an der Basis in aller Deutlichkeit zurück. Der DFB engagiert sich seit vielen Jahren in hohem Maße für die Integrationsarbeit in Deutschland. Er verleiht unter anderem den Integrationspreis, er hat die Kampagne „1:0 für ein Willkommen“ ins Leben gerufen und Zehntausende Flüchtlinge in die Fußballfamilie integriert. Er hat in den vergangenen 15 Jahren eine vielschichtige Integrationsarbeit etabliert, die bis in die Amateurvereine wirkt. Der DFB steht für Vielfalt, von den Vertretern an der Spitze bis zu den unzähligen, tagtäglich engagierten Menschen an der Basis.

Nein, die „liberalen Eliten“, haben damals keinen Krawall gemacht und lautstark erklärt, dass es gar nicht sein kann, dass „Millionen Ehrenamtliche“ rassismusfrei sind, sondern dass es genau andersherum ist, dass natürlich ein besonders großer Verband natürlich auch ein großes Rassismusproblem hat. In keiner Talk- oder Sportshow, zumindest habe ich davon nichts mitbekommen, wurde dem DFB vorhalten, dass sein „Integrationspreis“ und seine Rassismus-Kampagnen, so gut die auch sein mögen, natürlich ein Hohn sind, wenn sie von einem Verband kommen, der nicht im Ansatz die Dimension von Rassismus verstanden zu haben scheint.

Unter anderem auch weil damals die Stimme der „liberalen Eliten“ eben wieder nicht hörbar war, weil eben damals wie so oft nicht über Rassismus gesprochen wurde, ist es erklärbar, dass selbst jetzt, wo nach dem Mord an George Floyd auch hier in Deutschland Betroffene und Expert*innen strukturellem Rassismus in Deutschland erklären, dieser von maßgeblichen „liberalen Eliten“ einfach geleugnet wird. (In der aktuellen Folge meines QUEERKRAM-Podcasts mit Aminata Touré und Tessa Ganserer geht es u.a. darum, wie schwer es Altbundespräsident Joachim Gauck und dem rbb-Moderator Jörg Thadeusz in einer TV-Sendung offensichtlich fiel, in Deutschland strukturellen Rassismus zu erkennen.)

Voßkuhle und mit ihm viele Kritiker*innen von Identitätspolitik argumentieren mit einer angeblichen Dysbalance zwischen der Aufmerksamkeit für Minderheitenthemen und den Themen „normaler Menschen“, um den Populismus einzudämmen. Voßkuhle gibt vor, Populismus zu analysieren, um ihn einzudämmen, dabei betreibt er das, was er zu bekämpfen vorgibt. Sein Argument ist eine Formel des  Populismus. Die implizierte Unterstellung des zu großen Gewichtes von Minderheiten-Themen suggeriert, dass an dieser Baustelle nicht mehr so viel gearbeitet werden muss und man „Interesse“ der Politik verlagern könnte auf die Bedürfnisse „normaler Menschen“.

Aber so funktioniert Fortschritt eben nicht und so funktionieren liberale Gesellschaften nicht. Fortschritt heißt, dass sich jeder bewegen muss. Dass jeder verstehen muss, dass seine Sturheit, seine Ignoranz und das Festhalten an alten Regeln und Privilegien zulasten von anderen gehen. Normalität kann in einer offenen Gesellschaft nur sein, dass sich Normen verschieben.

Die Spaltung des Landes entläuft nicht zwischen bösen und guten Menschen, nicht zwischen denen mit einer besseren Moral und denen einer schlechteren. Die Spaltung des Landes trennt u.a. die Menschen, die vom strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft wissen, und denjenigen, die glauben, dass wir damit kein Problem haben. Sie trennt die Menschen, die glauben, dass queere Menschen viel zu präsent in Alltag und Öffentlichkeit sind und denen, die wissen, dass sich nur ein Drittel von ihnen traut, am Arbeitsplatz out zu sein.

Die Interessen der „normalen Menschen“ ernstzunehmen, hieße also, mit ihnen nicht weniger, sondern mehr, sehr viel mehr über Diskriminierung zu sprechen. Aber keine hohlen Kampagnen, keine überhöhten Selbstbeschwörungen eines angeblich bunten Deutschlands. Wir reden weder Land noch Leute schlecht, wenn wir uns als Gesellschaft darauf verständigen, wie rassistisch, wie homophob, wie transphob, wie sexistisch wir alle sind. Nicht durch gegenseitiges Schuldzuweisen, sondern durch die einfache Erkenntnis, dass wir alle in Strukturen groß wurden, die es uns schwermachen, ihnen zu entfliehen. Ja, das ist belastend, aber auch entlastend. Es ermöglicht, darüber zu reden, wie wir es besser machen können, und sich aus den Abwehrritualen zu befreien.

Nicht die Diskriminierten sind schuld am Populismus, wenn sie oder ihre politischen Alliierten die Diskriminierung zum Thema machen. Die Diskriminierer sind schuld. Das weniger auszusprechen, kann keine Lösung sein.


Aktuell in meinem QUEERKRAM-Podcast, präsentiert von queer.de (verfügbar aus Spotify, iTunes und den bekannten Podcast-Plattformen):

Aminata Touré und Tessa Ganserer über den Kampf gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit

Annie Heger über Backstage auf deutschen CSDs und Christin-Sein in der Community

Pierre Sanoussi-Bliss: „Das ist ein rassistisches Gespräch.“


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