7/4 – „Fortschritt ist eine Schnecke.“ Von Hans Hütt / anlasslos.de

#Tage7Blogger – 4. Tag

7 Nollendorf 4 mit Kind Willkommen zur schwulen Bloggerwoche. Anläßlich des Siebenjährigen dieses Blogs schreibt eine Woche lang jeden Tag ein anderer schwuler Blogger über die letzten sieben Jahre: Was bedeuten sie für die homosexuelle Emanzipationsbewegung, was für das schwule* Leben in Deutschland? Was hat sich verändert, wo standen wir damals, wo stehen wir heute?

 

Fortschritt ist eine Schnecke

von Hans Hütt

Heute Nachmittag folgte ich Falk Richters Vortrag über sein Stück FEAR bei der Böll-Stiftung. Während ich in einem Fenster meines Laptops diesem Livestream folgte, waren einige weitere Tabs offen, die mich kaum ablenken konnten. Sie nährten aber eine frei schwebende Aufmerksamkeit, die aus vielen Töpfchen gleichzeitig nascht. Nebenbei ist das eine der schönsten Voraussetzungen für das Bloggen: das situative Aufgreifen eines bedeutenden Augenblicks aus einem Strom von Bildfetzen.

Plötzlich erinnere ich mich an einen Vortrag des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders im September 2011 in Berlin. In dem voll besetzten großen Hotelsaal saßen ziemlich viele sehr adrett zurecht gemachte junge Männer, die man am späteren Abend an anderen Stellen des Tiergartens vermutet hätte. Bei jeder sich ihnen bietenden Gelegenheit sprangen sie auf und applaudierten.

Zwei Jahre später, an einem Spätsommerabend nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl, dringt durch einen Chor verhaltenen Stöhnens eine Stimme an mein Ohr, die meine Aufmerksamkeit fesselt. Ich höre dem volkswirtschaftlich zweifelhaften Vortrag eines anderen Gastes zu, den nicht der Sex lockte, sondern die Absicht, Stimmen für die AfD zu sammeln. Ich verwickele ihn in ein Gespräch, stelle ihn auf die Probe, frage ihn nach der Vorgeschichte der Finanzkrise und der griechischen Schulden, bringe ihn allmählich in Verlegenheit. Er wirft mir vor, ich drehte ihm das Wort im Mund um. Das mag sogar stimmen. Mein Zweck war erfüllt.

Was war an diesen zwei Septemberabenden in Schöneberg zu besichtigen? In der Begeisterung für Wilders und in der Propaganda für die AfD nahm ich Sehnsucht nach Zugehörigkeit wahr. Ich verstehe sie als Ergebnis einer komplizierten Operation. Sie funktioniert ähnlich wie Kontaktanzeigen, die nur mitteilen, was ihre Urheber nicht suchen. Diese Sehnsucht sucht Zugehörigkeit an einer Stelle im sozialen Raum, an der sie fast nur enttäuscht werden kann. Sie verwandelt Angst vor der Gleichheit durch Anwendung unmittelbaren Zwangs gegen sich selbst in eine Angleichung. Sie verlagert den Zwang gesellschaftlicher Verhältnisse in den eigenen Leib.

Es gäbe eine Alternative dazu. Sie könnten ihre Sehnsucht nach Gleichheit, den Traum vom Dazugehören, mit ihrer Ungleichheit begründen.

www.anlasslos.de

Hans Hütt fällt etwas aus dem Rahmen der in dieser Woche versammelten schwulen Blogger. Anders als die anderen betreibt er kein explizit schwules Blog, keine queere Website. Er ist aber einer der renommiertesten schwulen Blogger und vielleicht derjenige, der queere Themen am konsequentesten intellektuell und anschaulich in einem kulturhistorischen Zusammenhang darstellt und analysiert. 2014 gewann er den Michael-Althen Preis für ein Essay, in dem er u.a. das Theaterstück „Small Town Boy“ von Falk Richter betrachtete (hier der damalige Beitrag des Nollendorfblogs dazu) .  Er bloggt unter www.anlasslos.de, ist freier Autor für die FAZ, den Freitag, das Kursbuch, die taz und Zeit Online.Von 1978 bis 1981 war er (zusammen mit Egmont Fassbinder) Verleger des Verlags rosa Winkel.

Linktipp für Einsteiger: Aufstand des Körpers

Bisher auf „7 Jahre“ (Aktueller Nachtrag):

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Hier Beiträge zum von Hans Hütt erwähnten  Theaterstück „Fear“ von Falk Richter im Nollendorfblog:

„Was entgegene ich einem Argument, das schon tot ist?“ – Falk Richters „Fear“ an der Berliner Schaubühne /

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* Ich weiß, dass schwul und homosexuell nicht das Gleiche ist, aber es ist nun mal ein schwules Blog und somit auch ein homosexuelles. J.K
Grafik: Thomas von Klettenberg

 

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