Ungeoutete Weihnachten: Du bist nicht allein!

Du bist Weihnachten bei deiner Familie und bist nicht geoutet?

Du würdest dich gerne so fühlen, wie gerade alle gerade sagen, dass sie sich fühlen: Wie schön es ist, zur Ruhe zu kommen, endlich Familie wiederzusehen, endlich ein paar unbeschwerte Tage nur mit der Familie verbringen zu können.

Für dich ist das aber keine Ruhe, sondern du fühlst Stress. Für dich sind Tage mit der Familie nicht unbeschwert. Es ist ein Versteckspiel. Vor den anderen, aber auch vor dir selbst, weil du deine Gefühle vor dir selbst verstecken musst. Denn schließlich willst du dich ja auch einfach nur wohlfühlen. Es ist schließlich Weihnachten!

Doch du spürst, du musst aufpassen. Die Nähe fühlt sich komisch an, weil sie irgendwie bedrohlich ist: Was kannst du über dich sagen, ohne etwas preiszugeben, was du nicht willst? Was bedeuten ihre Blicke, ihre Fragen? Wissen oder ahnen sie „es“? Und wenn sie es wissen oder ahnen: Wollen sie, dass du damit rausrückst? Oder ganz im Gegenteil: Erwarten sie von dir, dass du sie „damit“ verschonst? Bitte nicht jetzt, bitte nicht jetzt an Weihnachten!

Was bedeuten diese Bemerkungen, die so nebenbei beim gemeinsamen Fernsehen fallen, die Sprüche und Witze? Machen sie das ganz unbedacht, weil sie ja keine Ahnung haben, dass auch du das bist, über was sie da gerade lachen: homosexuell? Oder machen sie das, weil sie es wissen? Wollen sie dir zu verstehen geben, was sie „davon“ halten?

Was bedeuten die Fragen, ob du eine Freundin, einen Freund hast? Wollen sie dich damit testen? Könnten sie damit leben, wenn die ehrliche Antwort auf diese Frage gleichzeitig auch sagt: Ich bin lesbisch, ich bin schwul? Und wenn du keinen Partner hast und die Frage deshalb ehrlicherweise verneinst: Ist das nicht trotzdem eine Lüge, die alles noch schlimmer macht? Müsstest du nicht eigentlich sagen: Nein, ich habe keine Freundin, und ich werde auch keine haben, weil ich schwul bin? Oder umgekehrt eben lesbisch?

Aber kannst du ihnen das zumuten? Nimmst du dich damit nicht viel zu wichtig? Es war doch eine harmlose Frage und jetzt kommst du und sprengst gleich Weihnachten. Haben sie das wirklich verdient?

Und warum überhaupt sollst du dir das alles zumuten? Es ist doch nur Weihnachten. Die paar Tage hältst du auch noch aus. Was bringt das überhaupt? Ist es das alles wert? Ist es überhaupt wichtig, dass sie wissen, ob du lesbisch oder schwul bist? Denn immerhin bist du doch so viel mehr.

Oder:

Vielleicht wissen sie es längst, und alles ist gar kein Problem. Einfach nur sagen, dann ist es raus. Es ist doch so einfach. Alle schaffen es nur du nicht. Warum machst du es ihnen so schwer? Warum behandelst du sie, als wären sie Unmenschen, obwohl du doch weißt, dass es nicht so ist? Sie waren nicht fies zu dir und sie hätten es einfach nur verdient, dass du ehrlich bist?

Oder, oder … .

Ich kenne das alles. So oder ähnlich. Von mir früher. Von Freunden. Von Menschen, denen ich irgendwann mal aus den unterschiedlichsten Gründen begegnet bin. Von vielen weiß ich nicht viel, aber ich weiß, was für ein Stress es war, nicht geoutet zu sein. Erst recht an Weihnachten.

Es ist eine Situation, in der man das Gefühl hat, eigentlich nichts richtig machen zu können. Eine Situation oft voller Scham und Schuldgefühlen, auch wenn man beides womöglich gar nicht so richtig spüren kann. Weihnachten ist ohnehin schon überlastet mit Gefühlen. Und dann noch „das“.

Ich möchte an dieser Stelle keine Coming-out-Tipps geben. Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, sich Weihnachten zu outen. Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, sich ungeoutet in eine Familie zu begeben, die einem nicht das Gefühl von Sicherheit vermittelt, oder ob es besser ist, sich da fern, sich da in Sicherheit zu halten.

Das Doofe am Coming-out und dem Nicht-geoutet-Sein ist, dass man die Entscheidungen alleine treffen muss. Das Gute aber ist, dass man dabei nicht alleine ist. Menschen auf der ganzen Welt geht es gerade so. Und Millionen von Menschen, denen es einmal so ging, sind dir gerade ganz nah.

Das Schöne an Community ist, dass man von Menschen verstanden werden kann, die dich nicht kennen. Das mag dir in der jetzigen Situation vielleicht nicht helfen, zumindest nicht konkret. Aber vielleicht ist es dir eine Hilfe zu wissen, dass keiner der Gedanken, die ich da oben aufgeschrieben habe, etwas damit zu tun hat, dass du etwas falsch gemacht hast, oder dass du zu schwach bist.

Es sind Gedanken, mit denen du dich nur aus einem Grund herumplagen musst: Weil diese Gesellschaft nicht fair zu dir ist! Weil es diese Gesellschaft immer noch nicht geschafft hat, mit Homosexualität angemessen umzugehen, und somit auch mit dir angemessen umzugehen. Nicht du bist das Problem. Die Umstände sind es, und für sie kannst du nichts. Und deswegen kannst du auch nicht viel falsch machen. Dass man sich outen muss, um frei zu sein und dass das dazu führt, dass es dann vielleicht irgendwie etwas unangenehm für alle beteiligten wird, das hast nicht du erfunden.

Dass Coming-out überhaupt immer noch so ein großes Ding ist, ist nicht dein Versagen, sondern dass der anderen. Wenn dir deine Familie bis jetzt noch nicht das Gefühl geben konnte, dass du dich so zeigen darfst, wie du bist, dann haben sie etwas versäumt, nicht du. Es ist nicht dein Job, die Gefühle deiner Eltern zu schonen. Du bist oder du warst ihr Kind, du hast das Recht von ihnen aufgefangen zu werden, egal wie du bist. Es ist nicht deine Aufgabe, Eltern zu erklären, dass Homosexualität in Ordnung ist. Es ist ihre Aufgabe. Es ist nicht deine Schuld, wenn das Coming-out zu unschönen Situationen führt, sondern ihre. Ja, auch sie haben das Recht, enttäuscht, traurig oder wütend zu sein. Aber nicht wegen dir, sondern wegen ihrer selbst. Weil sie es nicht geschafft haben, sich darauf vorzubereiten, dass eines ihrer Kinder homosexuell sein könnte.

Ja, du musst da jetzt durch. Mit Coming-out jetzt oder dann eben später. Irgendwie. Keiner kann dir sagen, wie es werden wird. Vielleicht wird es viel einfacher, als du es dir vorgestellt hast. Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Vielleicht wird es aber auch viel komplizierter. Doch eines können dir all die bestätigen, die all da schon mal waren, wo du gerade bist: Es lohnt sich. Immer.

Genieße dieses Weihnachten. Denn so wie du bist, ist alles prima. Und du bist nicht allein. ♦

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