Sigmar-Gabriel-Interview: SPIEGEL verharmlost deutsche Homosexuellenverfolgung

Die deutsche Arroganz gegenüber Qatar ist „zum Ko…“! Wie vergesslich sind wir eigentlich? Homosexualität war bis 1994 in D strafbar. Meine Mutter brauchte noch die Erlaubnis des Ehemanns, um zu arbeiten. „Gastarbeiter“ haben wir beschissen behandelt und miserabel untergebracht.

Sigmar Gabriel auf Twitter am 29.10.2022

Letzte Woche hatte Sigmar Gabriel einen Tweet abgesetzt, in dem er die Situation Homosexueller im WM-Austragungsort Katar verharmloste, in dem er diese mit der Situation Homosexueller „bis 1994“ in Deutschland verglich. Was natürlich Unfug ist. Damals in den 1990ern war Deutschland zwar von einer rechtlichen Gleichstellung Homosexueller weit entfernt. Und es galt immer noch eine Version des Paragrafen 175, der einvernehmlichen Männer-Sex mit einem anderen Schutzalter als bei Heterosexuellen belegte, was nicht nur bis zur Abschaffung des Paragrafen 1994 zu  Verurteilungen führte, sondern auch die kriminalisierende gesellschaftliche Abwertung fortschrieb.

Trotzdem gab es  in Deutschland in den 1990ern keine Homosexuellenverfolgung mehr, und – anders als in Katar, nicht die Gefahr – als Homosexueller staatlich gefoltert, oder gar – je nach Auslegung der Sharia – hingerichtet zu werden.

Gabriels Tweet ist in vielerlei Hinsicht beachtenswert und wirft einige Fragen auf. Denn immerhin äußert sich hier ein ehemaliger deutscher Wirtschafts- und Außenminister, der zu seiner Amtszeit mit einigen queerfeindlichen Regierungen im engen Kontakt war. Hat Gabriel damals etwa Russlands Queerfeindlichkeit genau so verklärt, wie jetzt die in Katar? Wie hat er diese damals angesprochen, hat er sie überhaupt angesprochen? Welchen Druck hat Deutschland über seinen damaligen Wirtschaftsminister ausgeübt, als Russland 2013 mit seiner homosexuellenfeindlichen Agenda starte? Und später als Außenminister, als sie sich zu einer Art Doktrin verfestigte?

Zur Erinnerung: Auch damals gab es angesichts der bevorstehenden Olympischen Spiele im russischen Sotschi 2014 in Deutschland eine Diskussion darüber, wie man sich politisch gegenüber dem internationalen Sportereignis in einem Unrechtsstaat verhalten solle. Jetzt möchte man doch angesichts seiner neuen Aussagen wissen: Wie war Gabriels Haltung damals? Hat sie sich geändert? Warum hat sie sich geändert?

Und außerdem: Sigmar Gabriel war bis 2017 SPD-Vorsitzender, was sagt sein lapidarer Umgang mit Fakten zur Situation Homosexueller über seine Seriosität bei diesem Thema aus? Was die Tatsache, dass er nicht die Folter von Homosexuellen „zum Ko…“ findet, sondern die „Arroganz“ derjenigen, die sich darüber aufregen? Gabriel führte die SPD in einer Zeit des queerpolitischen Stillstandes.  Auch hier zur Erinnerung: Die SPD hat bei den Koalitionsverhandlungen mit der CDU nach der Bundestagswahl 2013 unter Gabriel die “Ehe für alle” nicht durchsetzen können, obwohl sie genau das im Wahlkampf vorher versprochen hatte. Doch war es wirklich so, dass die SPD damals alles versucht hatte und nur an der erbittenden Gegenwehr der Union gescheitert ist, wie danach immer wieder behauptet wurde? (Hier habe ich damals über die Situation gebloggt.) Ist es nach diesen und all den anderen (z. B.: hier) Homophobie-relativierenden bis homofeindlichen Äußerungen nicht sehr naiv zu glauben, dass Gabriel sie mit Merkel in den Koalitionsverhandlungen ausgerechnet in der Homo-Frage wirklich angelegt hat? Wie ehrlich und wie erfolgsorientiert war der Einsatz der SPD unter dem Gabriel-Vorsitz (2009-2017) tatsächlich?

Es gibt also viele Gründe, einmal bei Sigmar Gabriel nachzufragen, was dieser Tweet zu bedeuten hat. Eigentlich also eine gute Idee, dass der SPIEGEL genau das gemacht hat. Heute veröffentlichte der gedruckte SPIEGEL ein zweiseitiges Interview mit dem ehemaligen Außenminister, das seinen Katar-Tweet zum Anlass nahm.

Eigentlich eine gute Idee. Aber leider hat es der SPIEGEL (wie so oft bei queeren Themen)  versemmelt. Denn während Sigmar Gabriel die Zeit zwischen seinem Tweet (sowie den kritischen Reaktionen, die dieser auslöste) und dem Interview nutze, sich die Fakten nochmal draufzuschaffen, um zumindest keinen ahistorischen Blödsinn zu wiederholen, hatte sich der SPIEGEL-Mann die Vorbereitung offensichtlich geschenkt.

Als Gabriel erklärt:

Auch bei uns ist die Gleichstellung von Homosexuellen und die Gleichberechtigung von Frauen doch nicht erfunden, sondern Schritt für Schritt erkämpft worden. Nachdem wir knietief durch Blut gewatet waren, haben wir Deutschen dafür Jahrzehnte gebraucht. Wenn wir wirklich wollen, dass diese Liberalität auch in anderen Ländern entsteht, dann müssen wir sie auf diesem Weg bestärken. Und nicht mit ihnen so umgehen, dass selbst die Gutwilligsten irgendwann die Ohren verschließen, weil nichts von dem, was schon erreicht wurde, von uns wertgeschätzt wird.

Fragt Veit Medick nach:

SPIEGEL: Sie setzen ein paar hinterwäldlerische Jahrzehnte in der alten Bundesrepublik mit einem Scharia-Staat gleich. Was soll das?

Was soll das, DER SPIEGEL?

Könnt Ihr nicht einer schlimmen Relativierung widersprechen, ohne eine weitere schlimme Relativierung vorzunehmen?  Gabriel erzählt Unsinn über die Situiation Homosexueller in den 1990ern und Euch beim SPIEGEL fällt kein besserer Konter ein, als Unsinn zu erzählen über die Situation der letzten Jahrzehnte?

Muss man dem SPIEGEL wirklich erklären, dass die Homosexuellenverfolgung in der jungen Bundesrepublik nicht nur mit der Gesetzgebung der Nazis fortgeführt wurde, sondern mit Härte, Eifer und Gnadenlosigkeit, die bis 1969 zu über 100.000 Ermittlungen und etwa 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen führte? Und unzählige Menschen in den Selbstmord trieben, ihre Karrieren und gesellschaftliche Existenze zerstörte?

Und die passende Umschreibung im SPIEGEL dafür lautet „hinterwäldlerisch“?

Und so wird das ganze Interview zur Farce. Denn natürlich nutzt Geschichtsverklärer Gabriel seine Chance zum Gegenangriff und nutzt die Geschichtsverklärtheit des SPIEGEL-Mannes nun dazu, diesem wiederum die Geschichte zu erklären. Gabriels Ausfall ist auf einmal keiner mehr. Ist irgendwie wie in einer Mathe-Gleichung: Zweimal minus ist dann wieder plus. Je ein schiefer Vergleich auf jeder Seite und dann ist wieder alles supi.

Warum Sigmar Gabriel seinen schiefen Homo-Vergleich verwendete (und was daran schief ist) konnte im SPIEGEL also nicht geklärt werden. Ist aber irgendwie auch nicht so schlimm. Was jetzt genau? Egal.

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Wer mehr über die Homosexuellenverfolgung in der Bundesrepublik erfahren möchte: In meinem QUEERKRAM-Podcast  vom Mai 2022 spreche ich u.a. mit dem Zeitzeugen Harm-Peter Dietrich.

 

 

 

 

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