Katherina Reiche und Wolfram Weimer: Der gefährliche Kulturkampf des Friedrich Merz

Seltsam ruhig ist es nach dem queerpolitischen Backclash, den die neue Bundesregierung verspricht. 

Und ich gebe es zu: Aufgrund der weltpolitischen Erschütterungen ist in letzter Zeit auch mein Blick auf die wichtigen queerpolitischen Themen Deutschlands etwas abgeschweift. Beim Zustandekommen früherer Regierungen und ihrer Koalitionsverhandlungen war ich, was „unsere“ Anliegen betraf, informierter, interessierter und vor allem: engagierter.

Die vorgezogene Bundestagswahl hat die Community zudem auf dem falschen Fuß erwischt. Die kommende CSD-Saison im Sommer – vor den eigentlich für den Herbst geplanten Wahlen – hätte die Zeit sein sollen, in der unsere Anliegen und Forderungen auf die Straße und auf die politische Agenda gebracht werden.

Die Parteien hätten sich hierzu erklären müssen – allein schon, um irgendwie Teil der CSDs sein zu können oder dort zumindest nicht kurz vor den Wahlen erwartbar ausgebuht zu werden.

Doch nun war eben alles anders. Nun musste es nicht nur schnell gehen. Nun fanden Koalitionsverhandlungen gleichzeitig mit parallel stattfindenden internationalen Verwerfungen statt. Es ging um Krieg und Frieden, den drohenden Zerfall der westlichen Sicherheitsarchitektur und des globalen Wirtschaftssystems. Deutschland musste ganz schnell wieder stark werden, handlungsfähig werden, wieder führen können.

Unausgesprochen hieß das für queere Themen: Es gibt Wichtigeres! Wichtigeres als die von der Community seit Jahren geforderte Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes, mit der queere Menschen in unserer Verfassung endlich umfassend geschützt würden. Wichtigeres als die überfällige Stärkung von Regenbogenfamilien. Wichtigeres als irgendwelche konkreten Beschlüsse, die dazu beitragen könnten, das Leben queerer Menschen zu verbessern und deren Diskriminierung zu bekämpfen.

Natürlich ist das Quatsch. Denn nichts von all dem, was queere Menschen hätte stärken können, hätte Deutschland geschwächt. Und noch besser: Nichts davon hätte wirklich Geld gekostet. Niemandem hätte irgendetwas weggenommen werden müssen. Im Gegenteil. Deutschland hätte ein Stück gerechter, ein Stück gesünder, ja: ein Stück stärker sein können. Für alle!

Wie sehr gesellschaftliche Offenheit zur wirtschaftlichen Stärke beitragen kann, zeigt das Beispiel Kalifornien. Der US-Bundesstaat ist vor Kurzem zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt aufgestiegen – nicht nur wegen seiner Tech-Industrie, sondern auch, weil er Vielfalt zum Standortvorteil gemacht hat.

Kalifornien zieht queere Talente aus konservativeren Regionen an – weil man dort leben kann, ohne sich zu verstecken. Hochschulen und Unternehmen bieten nicht nur rechtliche Sicherheit, sondern eine Kultur der Sichtbarkeit und Akzeptanz. Das stärkt den Fachkräftepool, gerade in kreativen und technologischen Branchen. Innovation entsteht dort, wo Menschen sich sicher fühlen – das zeigen Studien immer wieder: Divers zusammengesetzte Teams arbeiten besser, wenn sie in einer inklusiven Umgebung agieren.

Auch wirtschaftlich lohnt sich diese Haltung. Technologisch innovative Firmen stehen weltweit für Fortschritt und Offenheit – und erreichen damit eine junge, diverse, global denkende Kundschaft. Das Williams Institute (UCLA) belegt, dass LGBTQ+-freundliche Arbeitsplätze mit höherer Produktivität und Mitarbeiterbindung einhergehen. Initiativen wie „Open for Business“ zeigen, dass queerfreundliche Regionen erfolgreicher wirtschaften.

Kalifornien beweist: Wer Gleichstellung ernst nimmt, stärkt nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit.

Dass die neue Regierung hiervon nichts wissen und Deutschland nichts gönnen will, scheint keine rationalen, sondern vor allem ideologische Gründe zu haben. Auf die Frage der Frankfurter Rundschau, warum das Wort „queer“ nur zweimal auf den 144 Seiten des Koalitionsvertrages zu finden ist, antwortete die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken:

„Es war ein Kampf, dass es wenigstens zweimal da steht.“

„Für einige Konservative“, so Esken weiter, sei „queer“ eines von

…„zahlreichen `woken´ Trigger-Wörtern, die sie hart bekämpfen. Das zeigt mir: Wir befinden uns mitten in einem Kulturkampf, der uns in voraufklärerische Zeiten zurückführen will – in den USA sehen wir das Vorbild dazu.“

Dass ausgerechnet das amerikanische Vorbild – also Trumps Kulturkampf gegen Minderheiten, Wissenschaft und Medien – inzwischen nicht nur die offene Gesellschaft, sondern auch den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort der USA massiv destabilisiert, müsste deutschen Konservativen eigentlich eine Warnung sein. Doch statt daraus Lehren zu ziehen, wirken manche, als wollten sie diesen zerstörerischen Kurs auch hierzulande kopieren.

Friedrich Merz betont in der Außen- und Sicherheitspolitik gerne seine Verantwortung für die Verteidigung westlicher Freiheit. Er hat dem schuldenfinanzierten Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro ausdrücklich mit Verweis auf Putins Angriff auf die liberale Ordnung zugestimmt – und mit Trumps wankender Verlässlichkeit innerhalb der NATO. Doch wenn Merz die westliche Sicherheitsarchitektur tatsächlich als gefährdet ansieht, dann müsste er auch den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Werten, die durch diese Architektur geschützt werden sollen, dieselbe Priorität einräumen.

Denn was heißt es, den Westen zu verteidigen? Geht es nur um Grenzen, Territorien und Militärtechnik – oder nicht vor allem um das, was innerhalb dieser Grenzen möglich sein muss: Freiheit, Vielfalt, Offenheit, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Selbstbestimmung? Wer wie Merz Sicherheitspolitik betreibt, aber gleichzeitig die Axt an die liberalen Grundpfeiler der Gesellschaft legt, betreibt am Ende keine Verteidigung des Westens, sondern seine Aushöhlung von innen.

Dabei weiß Merz selbst sehr genau, worum es geht. Auf der CDU-Grundsatzprogrammkonferenz im März 2024 in Stuttgart sagte er:

„Frieden gibt es auf jedem Friedhof. Freiheit ist das Wichtigste für eine offene und liberale Gesellschaft.“

Wenn Freiheit – wenn eine offene und liberale Gesellschaft – also das ist, warum es den Westen zu verteidigen gilt: Warum tritt er dann nicht genau dafür ein?
Warum nutzt er nicht die Gelegenheit, die größten Sicherheitsanstrengungen, die dieses Land je unternommen hat, mit den Werten zu begründen, auf denen sie beruhen? Warum benennt er nicht klar, dass der Westen, den Putin vernichten will, jener Westen ist, der individuelle Freiheiten schützt – insbesondere geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung?

Er müsste es ja nicht einmal so klar sagen wie Barack Obama, der 2016 in seinem Plädoyer für ein starkes Europa die Grundprinzipien eines freien Westens so zusammenfasste:

„Die Welt ist auf ein demokratisches Europa angewiesen, das die Prinzipien von Pluralismus, Vielfalt und Freiheit aufrechterhält – jene Prinzipien, die unser gemeinsames Glaubensbekenntnis sind. Als freie Völker dürfen wir nicht zulassen, dass die von mir beschriebenen Kräfte – Ängste um Sicherheit oder wirtschaftliche Sorgen – unser Bekenntnis zu den universellen Werten untergraben, aus denen unsere Stärke erwächst.“

Und dann konkretisierte er:

„Vielleicht am wichtigsten ist: Wir glauben an die Gleichheit und die angeborene Würde jedes einzelnen Menschen. Heute haben die Menschen in Amerika die Freiheit, die Person zu heiraten, die sie lieben.“

Was für Obama „das Wichtigste“ war, ist auch neun Jahre später für Merz kein Thema. Ist individuelle Freiheit für Merz nur eine hohle Floskel?

Schön wär’s.

Schön wär’s, wenn das Thema „queer“ Friedrich Merz einfach nur egal wäre. Egal, weil es jetzt eben seiner Meinung nach Wichtigeres gibt.
Doch das ist es eben nicht. Merz möchte nicht nur nichts für queere Menschen tun. Bei aller Unwichtigkeit findet er sie offensichtlich so wichtig, dass er denkt, etwas gegen sie tun zu müssen.

Anders ist die Wahl von Katherina Reiche und Wolfram Weimer nicht zu erklären. Anders als fast überall geschrieben, sind das eben nicht nur zwei extrem konservative Figuren. Was Reiche und Weimer bezogen auf homosexuelle Menschen von sich geben, ist antiliberal und reaktionär. Mindestens.
Für beide bedeuten Homosexuelle eine Gefahr für die Gesellschaft. Ihre entsprechenden Äußerungen haben sie auch angesichts der Berufung in eine Bundesregierung nicht zurückgenommen und offensichtlich auch nicht zurücknehmen müssen. Für den Eintritt in die neue Bundesregierung scheint dieser Homohass eher Qualifikation als Hindernis zu sein.

Schon eklig, der Homosexuellen-Ekel des neuen Kulturstaatsministers. In seinem Buch „Land unter: Ein Pamphlet zur Lage der Nation“ schrieb er 2012:

„Längst sind es nicht mehr nur Prominente und die Boulevardpresse, die mit schamloser Zurschaustellung aller Intimitäten das Publikum unterhalten. Die gesamte Kulturindustrie ist durchtränkt vom Entäußerungsspiel des Privaten. (…) Die kollektive Gier nach dem Privaten anderer wird dort grotesk, wo sich die Kraftfelder der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung – das Politische und das Mediale – überschneiden. Die Fälle Seehofer bis Pauli, Wulff bis Gauck, aber auch das Outing der hessischen Kultusministerin sind darum keine zufälligen Ausreißer der politischen Unkultur. Sie sind symptomatische Kollateralschäden im kollektiven Feldzug gegen das Private.“

Nun ist man natürlich gespannt, welche schamlose Zurschaustellung sich die als konservativ geltende hessische Kulturministerin Karin Wolff (CDU) damals, 2007, bei ihrem Coming-out ausgedacht hatte.
Queer.de berichtete unter der Überschrift „Karin Wolff: Coming-out ohne Tamtam“:

Wohl nicht ohne Hintergedanken nahm Hessens Kultusministerin Karin Wolff ihre Freundin zum Sommerfest der „Bild“-Zeitung mit. Sie wollte, dass die sechsmonatige Beziehung mit ihrer Lebensgefährtin publik wird. Und das auflagenstärkste Blatt der Republik bedankte sich mit einer wohlwollenden Titelgeschichte: „Ich liebe eine Frau“, schrieb das Springer-Organ für seine Verhältnisse recht zurückhaltend in großen Lettern und lobt den Mut der 48-Jährigen.

Und:

Ministerin Wolff selbst besteht darauf, dass sie mit ihrem Coming-out „kein Tamtam“ machen wolle. Und hatte erst heute wieder einen großen Tag im Landtag, in der ihre Schulpolitik von der eigenen Partei ausdrücklich gelobt wurde.

Das kleinstmögliche Coming-out also. Einfach nur seine Partnerin zu einer öffentlichen Veranstaltung mitbringen. Sich einfach nur so verhalten, wie die Heteros es tun. Für den demnächst mächtigsten deutschen Kulturpolitiker symptomatischer „Ausreißer politischer Unkultur“. Das ist nicht nur einfach homophob und konservativ. Das ist kulturlos, menschenverachtend. Und eben kein „Ausreißer“.
Wolfram Weimer im gleichen Buch:

„Da auf den öffentlichen Bühnen inzwischen alles, aber auch alles verhandelt wird und die Nachmittagsshows im Privatfernsehen mit ihrer diskursiven Proletarisierung den letzten Rest der Enttabuisierung besorgen, glaubt ein jeder, dem Trend folgen zu müssen. Elternsprecher outen sich als homosexuell, Nachbarn gestehen sich Hautkrankheiten, Jugendliche chatten in Internet-Foren über die Länge ihrer Schamhaare – aber bitte mit Belegfoto von der Webcam. Der Comment ›Das gehört sich nicht‹ ist abgeschafft.“

Mit der Auswahl von Wolfram Weimer und Katherina Reiche hat Friedrich Merz das Kunststück fertiggebracht, zwei Personen für höchste Ämter zu finden, die in ihren Aussagen zu Homosexualität und Homosexuellen Donald Trump weit rechtsaußen überholen.
Dass er ausgerechnet Katherina Reiche zur Wirtschaftsministerin macht, muss fassungslos machen. Sie ist selbst unter den Homo-Feinden in der Union eine Ausnahme, da sie sich nicht nur gegen gleiche Rechte für Homosexuelle wendet, sondern schon homosexuelle Partnerschaften per se problematisch findet.
Dass Friedrich Merz da etwas übersehen hat, ist ausgeschlossen. Katherina Reiches politischer „Fame“ gründet sich maßgeblich auf ihre ideologischen Kulturkampfeskapaden.

2019 schrieb ich hier im Blog:

Wir erinnern uns: Noch vor AfD-Zeiten hatte die 2015 aus dem Bundestag ausgeschiedene Politikerin ihre Bekanntheit mit scharfen Attacken gegen Homosexuelle begründet. Kein Mitglied des Bundestags (selbst Erika Steinbach nicht) hetzte damals in der Öffentlichkeit heftiger gegen Lesben und Schwule. Und wäre sie noch im Parlament, wären ihre damaligen Äußerungen auch trotz der mittlerweile dort vertretenen AfD immer noch relativ unangefochten ganz dicht dran am rechten Rand.
In BILD erklärte sie 2012 Homosexuelle zur Gefahr:

„Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Neben der Euro-Krise ist die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstands. […] Die Gesellschaft wird nicht von kleinen Gruppen zusammengehalten, sondern von der stabilen Mitte.“

Auf die ihr auf dem Portal Abgeordnetenwatch gestellte Frage, in welcher Weise gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften die Zukunft beeinträchtigen würden, antwortete Reiche:

„… falls die [5.] Frage überhaupt Relevanz besitzen sollte, dann entwickelt sich eine Gesellschaft in die Strukturlosigkeit, die am Ende ausschließlich materiellen Anreizen folgt. Auf der einen Seite unbegrenzter Hedonismus, auf der anderen unendliches Leid.“

Wir haben es also hier nicht nur mit einer (etwa religiös) motivierten Gegnerin der damals sogenannten „Homo-Ehe“ zu tun. Nein, schon das Zusammenleben von Homosexuellen begünstigt nach ihrer Behauptung verheerende gesellschaftliche Entwicklungen. Schön verschwurbelt surft sie hier nah an der Volksverhetzung.

Doch mal abgesehen von dem wirren Welt- und Menschenbild, das hinter solchen Aussagen steckt:

Ist eine Bundesministerin intellektuell ernst zu nehmen, die allen Ernstes glaubt, dass gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen? Die Behauptung, unsere Zukunft liege „in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften“, ist nicht nur diskriminierend, sondern auch volkswirtschaftlich dumm. Sie erklärt queere Menschen zum Problem – obwohl sie längst Familien gründen, Kinder großziehen, Angehörige pflegen und Steuern zahlen. Vor allem aber: Queere Beziehungen behindern niemanden. Sie gefährden weder das Aufwachsen von Kindern noch das Leben heterosexueller Familien – sie nehmen niemandem etwas weg.


Warum also sucht sich Friedrich Merz ausgerechnet in diesen Zeiten eine Wirtschaftsministerin, die mit ihrem Gesellschaftsbild näher bei Putins Moskau als bei Kaliforniens Silicon Valley steht? Warum einen Kulturstaatsminister, der Selbstbestimmung und Emanzipation zur Unkultur erklärt?

Homophobie ist nicht nur nicht besonders klug. Sie ist wirtschaftlicher Standortnachteil – und die Verhinderung von Kultur.

Friedrich Merz’ Kulturkampf sollte auch die Heteros beunruhigen. ♦


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