“Nicht so schnell beleidigt zu sein würde helfen.”
Stefan Reinecke, taz
Wolfgang Thierse und Gesine Schwan haben es geschafft, die bisher hauptsächlich konservativ bis rechts geführte Debatte über das, was die so Debattierenden “Identitätspolitik” nennen, durch die Mitte hindurch bis tief ins linke Meinungslager zu ziehen. Flankiert vom erschreckend starken Applaus einer breiten Öffentlichkeit greifen sie Minderheiten dafür an, dass sie von diesen kritisiert werden. Den Minderheiten werfen sie vor, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden, weil diese an die Gemeinschaft übertriebene und unbegründete Forderungen richteten. Sie nennen es “Identitätspolitik”, weil diese Forderungen nicht rational unterfüttert würden, sondern sich hauptsächlich aus der persönlichen “Betroffenheit”, aus der subjektiven “Identität” speisten.
Etwas verkürzt gesagt: Gesellschaft könne eben nicht funktionieren, wenn jeder statt eines sachlichen Argumentes sein eigenes Beleidigtsein als Kriterium heranziehen würde. Und genau so sei das eben bei den Gruppen mit “identitätspolitischen” Forderungen: Statt zu argumentieren, seien diese einfach nur beleidigt.
Reden wir also über Argumente. Und reden wir über das Beleidigtsein. Und fangen wir bei mir damit an:
Ich bin nicht beleidigt. Die Forderungen, die ich und andere für die queere Community formulieren, begründen sich nicht daraus, dass meine Community beleidigt wird. Sie begründen sich daraus, dass sie diskriminiert wird.
Natürlich führt Diskriminierung auch dazu, dass auch viele – zu Recht! – beleidigt sind. Doch das Beleidigtsein ist sozusagen der Kollateralschaden und nicht die politische Kategorie, um die es hier geht. Und die politische Kategorie, also das, wofür wir hier streiten, ist nicht irgendein wohliges Gefühl. Es geht nicht um Satisfaktion, sondern um Teilhabe. Wir wollen nicht, dass die Gesellschaft uns irgendetwas schenkt, irgendwelche Maßnahmen einführt, damit wir weniger unter unserer persönlich gespürten Betroffenheit leiden müssen. Wir wollen einfach nur gleichgestellt sein, und zwar nicht nur juristisch, sondern auch mit gleichen Möglichkeiten. Doch die sind strukturell nicht gegeben.
„Der Weg zu gleichen Chancen auf ein gesundes Leben ist für LGBTQI*-Menschen steinig. Gesellschaftliche und institutionelle Diskriminierung gehen Hand in Hand mit einer deutlich höheren psychischen und körperlichen Belastung“, sagt Mirjam Fischer, die Co-Verantwortliche einer neuen Studie, die u.a. belegt, dass queere Menschen im Vergleich zu nicht-queeren Menschen in Deutschland fast dreimal so oft von Depressionen und Burnout betroffen sind, viel häufiger an vielen körperlichen Krankheiten wie Herz- oder Rückenproblemen zu leiden haben. Herzprobleme sind keine Beleidigung.
Gesine Schwan wird nach dem queerfeindlich-entglittenen, von ihr moderierten Online-Talk “Jour Fixe” zu Actout, vom Deutschlandfunk gefragt, ob sie in Bezug auf queere Menschen noch Nachholbedarf habe.
Schwan:
Nein, habe ich überhaupt nicht. Ich habe in meiner Familie viele Schwule und ich habe wunderbare Verhältnisse zu ihnen und zu den Partnern. Die, die das mir vorwerfen, können das an keiner Stelle belegen, an keiner Stelle.
Reden wir über Argumente: Ganz abgesehen davon, dass die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission tatsächlich noch das alte Homophobie-Bingo “Aber meine besten Freunde sind doch schwul!” spielen möchte, und in dieser Veranstaltung an keiner einzigen Stelle den queerfeindlichen Positionen ihres Talkgastes Sandra Kegel widersprochen und sich mit dieser sogar gegen die queeren Gäste solidarisiert hatte: Sie selbst gab noch einen lesbophoben Witz zum Besten und sprach davon, dass sie sich nicht dafür entschuldigen möchte, nicht lesbisch zu sein.
Natürlich gelten solche Aussagen als homophob, weil sie eine Täter-Opfer-Umkehr sind und so tun, als wollten Homosexuelle Heteros ihre „Lebensweise“ aufzwingen und diese in eine Rechtfertigungsposition bringen. Aber natürlich könnte Schwan auch argumentieren, warum ein solcher Satz, der hier und anderswo argumentiert und ihr vorgehalten wurde, nicht homophob ist.
Aber das macht sie eben nicht: Argumentieren. Sie behauptet einfach und damit muss Schluss sein.
Reden wir über Argumente zum Thema Rassismus.
Auch diejenigen, die sich in unserer Gesellschaft gegen rassistische Praktiken und Begriffe engagieren, tun das – politisch gesehen – nicht, weil sie sich davon beleidigt fühlen. Sondern, weil das, was als Beleidigung von ihnen gespürt wird, viel mehr ist als das: Ausschluss und Zurückweisung. Rassistische Praktiken und Begriffe führen rassistische Gewohnheiten fort.
Wolfgang Thierse sagt im Deutschlandfunk zur Rassismusdebatte:
Aber das schöne Beispiel Berlin ist ja Onkel Toms Hütte und Mohrenstraße. Da hat sich ein heftiger Streit entbrannt und das muss weg, weil es Menschen gibt, die meinen, das sei rassistisch. Dabei ist die Tradition, die Geschichte dieser beiden Namen eine vollkommen andere, aber das will man gar nicht mehr wahrnehmen, weil eine differenzierte Betrachtung von Bedeutungsgeschichte ja nicht mehr erlaubt ist, sondern mein Gefühl der Betroffenheit, mein Gefühl des Ausgeschlossen seins. Das finde ich problematisch. Die Debatte ist notwendig.
Diese Debatte gibt es seit Jahren. Und sie wird geführt mit beachtlichen historischen Fakten und Argumenten, die aufzeigen, wie problematisch es aus der Bedeutungsgeschichte heraus ist, etwa am Namen der Mohrenstraße festzuhalten. Es ist jedermanns und auch Thierses gutes Recht, zu all diesen Argumenten eine andere Meinung zu haben. Doch einfach zu behaupten, es gäbe diese Argumente nicht, ist nicht nur intellektuell unredlich, sondern auch politisch verantwortungslos. Ein Mann, der immerhin mal als Bundestagspräsident der zweithöchste Repräsentant des Staates war und heute Teil der SPD-Grundwertekommission ist, redet denen nach dem Mund, die begründete Rassismusvorwürfe pauschal als unbegründet abqualifizieren können.
Reden wir also über Argumente.
Thierse ist in seinem eigenen Beispiel der, der glaubt, auf Argumente verzichten zu können. Er weiß ja schließlich Bescheid. Einzig er ist es, der aus seiner Identität heraus argumentiert: Aus der Identität des Bescheidwissers.
Genau so macht er es bei Thema Blackfacing, einer Praxis, die nicht nur von allen relevantem PoC-Gruppen als rassistisch betrachtet wird, auch dies mit einer kulturhistorischen Argumentation.
Im Deutschlandfunk-Interview wird er gefragt:
…. Das heißt, Sie meinen, Blackfacing müsste noch weiterhin heute möglich sein?
Thierse:
Kulturelle Aneignung über Hautfarben und ethnische Grenzen hinweg muss möglich sein. Das ist ein Wesenselement von Kultur, Grenzüberschreitung, Aneignung von anderem, von Fremdem, sich zu eigen machen, dabei die Unterschiede wahrzunehmen, das Eigene wahrzunehmen etc. Aber den lebendigen Prozess von Kultur in Schablonen zu gießen, das halte ich für falsch. Das schadet der Kultur, schadet übrigens auch der Pluralität. Es schadet auch dem friedlichen Zusammenleben.
Thierse spricht sich also nicht nur für eine rassistische Praxis aus, er begründet sie auch noch rassistisch: Erstens ist eine Hautfarbe keine Verkleidung. Der “Unterschied” des Schwarz-seins kann nicht dadurch “angeeignet” oder “wahrgenommen” werden, dass sich jemand eine Farbe ins Gesicht malt. Und zweitens: Wenn er von “der Kultur” spricht, meint er dann tatsächlich auch eine Kultur, in der Schwarze Menschen ganz selbstverständlich vorkommen? Denn es gibt ja bereits eine Kultur, in der Blackfacing aus guten Gründen nicht praktiziert wird. Ja: Wo ist hier das Argument, außer, dass Thierse nicht auf das verzichten will, was er kennt? Wieso schadet der Verzicht auf Blackfacing der Kultur? Was daran führt zum Unfrieden?
Der Sturm der Entrüstung der beinahe gesamten Medienöffentlichkeit hat sich über die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken entladen, als sie in einer internen Mail – ohne Thierse namentlich zu nennen, aber ihn wegen diesen und ähnlicher Aussagen offensichtlich zu meinen – von einem „rückwärtsgewandten Bild der SPD“ sprach.
Ist das nicht das Mindeste, was die Vorsitzende einer fortschrittlichen Partei bei einer solchen Parteinahme von Blackfacing und anderem tun muss? Aber auch wenn man die Äußerung Eskens unter Gesichtspunkten der politischen Opportunität bewerten und abwatschen möchte: Müsste nicht zumindest der gesellschaftspolitische oder feuilletonistische Teil der veröffentlichen Meinung in Deutschland zumindest ansatzweise in der Lage dazu sein, Thierses Äußerungen kritisch einzuordnen?
Stattdessen wird Esken zur Verrückten erklärt, weil sie einen so verdienstvollen Sozialdemokraten kritisiert habe.
Reden wir über Argumente: Was für eines ist das? Sind solche Aussagen wie die von Thierse weniger problematisch, wenn sie von jemand wie Thierse kommen? Findet die Auseinandersetzung darüber, was Rassismus und Queerfeindlichkeit ist, nur dann statt, wenn sie von weniger beleumundeten Leuten kommen? Wie und mit welchen Argumenten soll man dann überhaupt noch über Rassismus und Queereindlichkeit reden?
Als der ehemalige Bundestagspräsident von den Äußerungen seiner Vorsitzenden erfuhr, schikanierte er diese mit einer Art öffentlicher Erpressung, in dem er mit seinem Parteiaustritt kokettierte und sie damit unter Zugzwang zu einer starken öffentlichen Reaktion setze. Er tat das, obwohl, und wahrscheinlich auch weil die SPD zu diesem Zeitpunkt gerade alle Aufmerksamkeit auf die Veröffentlichung des Wahlprogramms zu richten versuchte.
Reden wir über das Beleidigtsein: Wie schlimm muss die persönliche Betroffenheit geschmerzt haben, dass er diese nicht einmal einem gelungenen Wahlkampfstart seiner Partei unterordnen konnte? Dafür spricht, dass Thierse immer weiter macht und weiter nachlegt. Im “Cicero” brüstet er sich damit, dass er für seine Kritik “überwältigende Zustimmung“ erfahren habe. Er könne sich vor E-Mails kaum retten, “zwischen 500 und 1000” habe er bekommen.
Reden wir über Argumente: Was für eines ist das? Vor allem: Was für eines ist das in einer Debatte, in der es ja angeblich um das Austarieren von Mehrheits- und Minderheitsinteressen geht: Je mehr Mehrheit sich einig ist, desto weniger brauchen wir darüber zu reden, ob nicht vielleicht das genau das Problem ist?
Im gleichen Interview sagte er
Uns Sozialdemokraten muss es um die Bündelung von Interessen gehen und um die Formulierung von Gemeinsamkeiten.
Und warnte:
„Die Absolutsetzung des eigenen Betroffenseins, die Vorstellung, ich empfinde mich als Opfer, also habe ich recht, ist mörderisch für eine demokratische Gesprächskultur. Denn es gibt ja andere Betroffenheiten und da könnten andere sagen: Ich bin auch Opfer, ich meine das genaue Gegenteil.“
Minderheiten machen sich zum Opfer. Einfach so. Und mörderisch ist das für die demokratische Gesprächskultur. Aber die anderen, das sind die mit der “Cancel Culture”.
Warum wehren sich Thierse und Schwan gegen jede Evidenz? Wieso fällt es ihnen so schwer, das, was sie als subjektive Betroffenheit abtun, als objektiv untermauerte diskriminierende Strukturen zu erkennen? Wäre der “Jour Fixe”- Talk auf Youtube auch dann so schrecklich nach hinten losgegangen, wenn auch nur eine*einer der beteiligten Sozialdemokrat*innen aufgefallen wäre, dass es den queeren Kritiker*innen von Sandra Kegel um ein ur-sozialdemokratisches Anliegen ging? Sie forderten das, was die SPD einmal groß gemacht hatte: Gleiche Teilhabe, gleiche und faire Zugangschancen zu dem von ihnen gewählten Beruf. Und sie argumentierten politisch, indem sie die strukturellen Barrieren benannten, die diese erschweren. Indem sich die SPD-Vertreter*innen aber mit Frau Kegel solidarisierten, solidarisierten sie sich auch mit deren Ressentiments und Abwehrreflexen, die genau diese Strukturen zementieren.
Die SPD ist dank Schwan und Thierse gerade dabei, einen Gegensatz zu beschwören, den es nicht gibt: Minderheitenforderungen werden als identitätspolitische Betroffenheit diffamiert und dann dem “eigentlich” wichtigen Ziel der sozialen Gerechtigkeit konkurrierend gegenübergestellt.
Dabei sind diese Forderungen kein Widerspruch zur sozialen Frage, sondern ein wichtiger Teil von ihr. Ob Schauspieler*innen, Fließbandarbeiter*innen oder Krankenpfleger*innen rassistisch oder queerfeindlichen Strukturen ausgesetzt sind, ist politisch gesehen keine Frage von Identität, sondern von Gerechtigkeit. Doch strukturelle Diskriminierung kann nur mit Hinweis auf Kategorien von Identität benannt werden, da diese ja der Gegenstand der Diskriminierung sind.
Ich bin nicht beleidigt. Aber wie wenig es in einer linken Partei bedarf, dass sich die öffentliche Stimmung in dieser Wucht um diejenigen schart, die Solidarität gegen und nicht für Minderheiten einsammeln, das habe ich mir vor wenigen Wochen nicht vorstellen können.
Das Bemühen um Teilhabe als “Identitätspolitik” zu bekämpfen ist eine Katastrophe für die betroffenen Minderheiten. Leider scheinen große Teile der SPD nicht verstehen zu wollen, dass es das auch für ihre Partei ist.
In ihrem eigenen Interesse, aber auch dem der Minderheiten, sollte die SPD diesen Crash als Chance begreifen. Schadensbegrenzung darf jetzt nicht weiter an den wahren Ursachen vorbei doktern: Homophobie und Queerfeindlichkeit gibt es überall, wir sind alle auch Teil des Problems und natürlich auch die SPD. Es wird immer Menschen geben, die denken, sie sind dagegen immun, und leider – siehe Thierse und Schwan – sind es oft diejenigen, die glauben, eine aufrechte Gesinnung machten dagegen immun.
Homophobie und Rassismus überwindet man nicht durch eine Gesinnung und Parteitagsbeschlüsse, sondern durch harte Arbeit. Nicht durch gegenseitige Vorwürfe, sondern gegenseitiges Lernen. Wenn die SPD sich aufrichtig an diese Arbeit traut, wäre das ein Gewinn nicht nur für sie und die Minderheiten. Sondern ein wirklicher Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft.
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Hintergrund:
Queer.de-Chef zur anti-queeren Eskalation in der SPD: „Es geht ums Eingemachte“
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