Ein Interview mit dem queer.de-Herausgeber Micha Schulze, dessen queere Nachrichtenseite in den Fokus einer queerfeindlichen Eskalation geraten ist, die bereits weit über die SPD hinausreicht.
In der großen Medienaufregung um die angebliche Unerwünschtheit Wolfgang Thierses in der SPD aufgrund dessen Aussagen zur “Identitätspolitik” spielt ein Bericht von queer.de eine zentrale Rolle: Ihr hattet unter der Überschrift “SPD-Spitze distanziert sich von Schwan und Thierse” über eine Mail berichtet, in der sich die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken bei queeren Mitglieder*innen und Kritiker*innen über den Verlauf der von Gesine Schwan geleiteten “Jour Fixe”-Diskussion entschuldigt und dabei auch “Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik” kritisiert. Nach Debattenlage musste damit zumindest Thierse auch mitgemeint sein, da dieser der prominenteste SPD-Vertreter war, der sich entsprechend geäußert hatte. Nun schreibt der Tagesspiegel, Saskia Esken habe gegenüber Thierse angegeben, queer.de habe diese Mail missbraucht und versucht, diese gegen den ehemaligen Bundestagspräsidenten auszuspielen. Habt Ihr?
Nein, das ist doch völlig absurd. Wir haben unseren Job als Journalist*innen gemacht und über die allererste Reaktion der SPD-Spitze nach dem Eklat um die „Jour Fixe“-Diskussion berichtet. Das ist natürlich eine Nachricht wert, zumal es in der E-Mail von Saskia Esken und Kevin Kühnert ja erfreulich klare Distanzierungen gab. Wenn sich die SPD-Vorsitzende wundert, dass die schriftliche Einladung, die an einen größeren Personenkreis ging, auch bei der Presse landet, dann muss sie ziemlich naiv sein. Auch hätte jedes Medium der Welt den Satz über „Aussagen einzelner
Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik“ auf Wolfgang Thierse bezogen, der „Tagesspiegel“ tat es später auch. Das als „grundfalsche Interpretationen“ zu kritisieren, ist schon mehr als dreist.
Der eigentliche Skandal ist ja, dass sich Esken nach der Austrittsdrohung von Wolfgang Thierse von ihren eigenen Aussagen distanziert und von ihrer berechtigten Kritik an dieser Dramaqueen nichts mehr wissen will. Damit ist klar geworden: Die SPD-Vorsitzende spricht gegenüber der LGBTI-Community mit gespaltener Zunge. In ihrer E-Mail versicherte sie eine Solidarität und Unterstützung, die offensichtlich nicht wirklich vorhanden ist.
Wie beurteilst du die Eskalation der öffentlichen Debatte in dieser Sache? Welchen Anteil hat queer.de daran und welche andere Medien?
Die Eskalation der Debatte zeigt, wie dünn die Akzeptanz queerer Menschen in Deutschland tatsächlich ist und wie wenig Bewusstsein es nach wie vor für die verschiedenen Formen von Queerfeindlichkeit gibt – das Gerede über eine angebliche ‚Identitätspolitik“, das immer zu einem minderheitenfeindlichen Diskurs führt, gehört dazu. Es erschreckt mich dabei allerdings weniger, dass sich die „üblichen Verdächtigen“ in den Redaktionen großer Tageszeitungen nun so heftig über die Kritik an Thierse empören. Viel mehr Sorgen macht mir, dass sich bislang nur sehr wenige Journalist*innen wirklich ernsthaft mit dem spalterischen FAZ-Essay des ehemaligen Bundestagspräsidenten beschäftigt haben und der LGBTI-Community solidarisch zur Seite springen.
Die Reaktionen sind insgesamt auch nicht wirklich überraschend. Wenn wir über die Queerfeindlichkeit der AfD berichten, gibt es von allen Seiten Beifall und es wird uns versichert, wie wichtig unsere Arbeit ist. Wenn wir dagegen queerfeindliche Äußerungen in sogenannten queerfreundlichen Parteien thematisieren, gibt es jedes Mal große Empörung, das gilt als Tabu. Diese Auseinandersetzungen sind jedoch besonders wichtig, denn hier geht es ans Eingemachte. Wir müssen dagegen kämpfen, dass sich ausgrenzende Rhetorik im „Mainstream“ breitmacht oder weiter akzeptiert wird. Was queerfeindlich ist und was nicht, kann dabei nicht die Mehrheitsgesellschaft definieren.
Welche Rolle spielen homophobe Ressentiments in der Berichterstattung zu Thierse?
Eine große. So wie sich hinter der sogenannten Islamkritik oft eindeutiger Rassismus verbirgt, ist Kritik an „Identitätspolitik“ oft queerfeindlich motiviert. Der Einsatz gegen Diskriminierung und für gleiche Rechte wird als egoistischer Eigennutz diffamiert, lächerlich gemacht und gegen vermeintlich wichtigere Dinge ausgespielt, obwohl diese nicht in Konkurrenz zueinanderstehen.
Viele Kommentator*innen, die Thierse zur Seite sprangen, zeigen ihre Distanz zur LGBTI-Community sehr auffällig auch in ihren sprachlichen Formulierungen. Esken lasse einen altgedienten Genossen fallen, „um sich beim queeren Milieu lieb Kind zu machen“, schrieb etwa Ex-„Welt“-Herausgeber Thomas Schmid. Die SPD-Chefin habe sich als „‘tief verstörte‘ Mitfühlende der diversen Geschlechtergemeinschaft hervortun wollen“, hieß es in der „FAZ“. Einen absurden Gegensatz baute „Welt“-Chef Ulf Poschardt, als er die SPD auf Twitter dazu aufforderte, den „identitätspolitischen Lärm“ zu ignorieren und sich stattdessen an ihre „liberalen Traditionen“ zu erinnern.
Wolfgang Thierse wird in fast allen medialen Kommentaren gerade als Opfer einer völlig überzogenen Kritik dargestellt. Aus queerer Sicht halten ihm viele zugute, dass er ja LGBTI-Rechte immer verteidigt habe. Trifft die ganze Aufregung hier den Falschen?
Natürlich steht Wolfgang Thierse nicht auf einer Stufe mit erklärten LGBTI-Gegner*innen wie Beatrix von Storch, das haben wir auch nie behauptet. Um die Demokratie in Deutschland hat er sich zweifellos verdient gemacht. Aber Thierse hat einen großen blinden Spot für Queerfeindlichkeit, und zwar schon seit langem. 2014 nannte er die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Ehen eine „legitime respektable Position“, auch sah er in der bloßen Erwähnung von LGBTI im Schulunterricht ein „Ungleichgewicht“ gegenüber heterosexuellen Familien. Das haben wir schon damals kritisiert.
Sein jüngstes FAZ-Essay „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ ist nun sogar ein klarer Angriff auf Minderheitenrechte. Mit neurechtem Vokabular stellt Thierse die Verhältnisse auf den Kopf: Nicht Diskriminierung und Ausgrenzung gefährden für ihn den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern ausgerechnet Minderheiten, die den Mund aufmachen. Dem muss laut und deutlich widersprochen werden, gerade von der Spitze einer demokratischen Partei.
Der Schwarze Marburger SPD-Kommunalpolitiker Liban Farah berichtet auf Twitter davon, dass er nach seiner Kritik an Thierse auf das „Übelste beleidigt“ werde, inklusive des N-Worts. Auch aus der SPD erreichten ihn Nachrichten mit dem Tenor, er brauche sich über so etwas nicht zu wundern, wenn er einen so ehrenwerten Genossen wie Thierse beleidige. Er schreibt „Meinungsfreiheit gilt wohl nur für die Mehrheitsgesellschaft.“ Ist da was dran?
Ich sehe keine Gefahr für die Meinungsfreiheit in Deutschland. Aber natürlich zielt Thierses Essay in der FAZ darauf ab, Minderheiten zum Schweigen zu bringen. Es ist die klare Aufforderung an queere und auch Schwarze Menschen, sich unterzuordnen, die Mehrheitsgesellschaft in Ruhe zu lassen und Machtverhältnisse nicht in Frage zu stellen. Die Mehrheitsgesellschaft will ganz offensichtlich nicht mit ihrer eigenen Queerfeindlichkeit und ihrem Rassismus konfrontiert werden.
Was zeigt die ganze Diskussion über die innere Haltung der SPD zu den Interessen der queeren Community? Welche Reaktionen auf Eure Berichterstattung kommen direkt bei Euch an, etwa in den Kommentaren oder auf anderem Wege?
Nicht wenige fanden ja die extrem scharfe Kritik des LSVD an der SPD nach dem durchaus sehr kritikwürdigen „Jour Fixe“ mit Gesine Schwan überzogen. Nun hat es ausgerechnet die Parteivorsitzende geschafft, alle Vorwürfe zu bestätigen. Die Beteuerungen der SPD, auf der Seite queerer Menschen zu stehen, sind tatsächlich „nichts wert“, wie es in der LSVD-Pressemitteilung hieß. Saskia Esken verkörpert nun die Unglaubwürdigkeit der SPD-Queerpolitik in Person. Unsere User*innen sehen das wohl auch so: In unserer Wochenumfrage bewerten fast die Hälfte der Teilnehmer*innen den Einsatz der SPD für LGBTI-Rechte als „mangelhaft“ oder „ungenügend“.
Von SPD-Fans gab es auf Twitter und Facebook zwar ein paar heftige Kommentare gegen uns, aber keinen echten Shitstorm. Das deute ich auch als einen Beleg dafür, dass es die SPD diesmal so richtig verbockt hat. Als wir auf queer.de die Homofeindlichkeit von Boris Palmer oder Sahra Wagenknecht thematisierten, wurden noch Abos gekündigt. ♦
Offenlegung: Mein QUEERKRAM-Podcast erscheint als Kooperation mit queer.de, ist aber eine von queer.de redaktionell und juristisch unabhängige eigene Unternehmung. Als Teilnehmer der “Jour Fixe”-Diskussion zähle auch ich zu dem Personenkreis, der die mittlerweile viel zitierte E-Mail von Saskia Esken und Kevin Kühnert mit einer Gesprächseinladung erhalten hat. Ich habe weder die Mail noch deren Inhalt an queer.de noch an eine andere Stelle geleakt. – Johannes Kram
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Hintergrund:
Meine Gegenrede zum queerfeindlichen FAZ-Artikel von Sandra Kegel zu „Act Out“
SPD-Talk zu Act Out: Lügt Sandra Kegel? ZDF widerspricht FAZ-Frau
Dossier: Alle Beiträge zum Thema „Act Out“
Dossier: Alle Beiträge zur SPD
Dossier: Alle Beiträge zur Homophobie der FAZ
Dossier: Alle Beiträge zur Homophobie der WELT
Dossier: Alle Beiträge zur Homophobie in den Medien
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