Schäme Dich, Deutschland!

Man  muss sich Sorgen um Deutschland machen. Deutschland hat den Knall nicht gehört.

Als Conchita Wurst beim Eurovision Songcontest ihr „We are unstoppable“ in die Welt rief, war das überall zu hören. Nur nicht im deutschen Fernsehen. Dort dachte man, die deutschen Zuschauer auf den späteren Gewinnerbeitrag mit den Worten einstimmen zu müssen, man könne ja jetzt die Augen schließen, wenn man „nur das Lied hören“ möchte.

Genau ein Jahr später braucht es zwei Tage, bis der Chefredakteur einer großen deutschen Regionalzeitung versteht, dass es homophob ist, wenn man eine Hochzeit zwischen zwei Menschen als sexuelle Provokation diffamiert. Zeitgleich stimmen die Iren über die „Homo-Ehe“ ab und sind sich über Parteigrenzen darüber einig, dass sie ihr Land damit auf einen guten Weg schicken. Wir reden über Irland, das so katholisch ist, dass es sich erst im Jahr 1995 darüber einig werden konnte, Scheidungen zu legalisieren.

Mit dem, was eine konservative britische Regierung auf die Reihe bekommt, was (noch beachtlicher) im traditionell prüden Amerika als eine der größten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse der letzten Jahrzehnte zu beobachten ist, denkt Deutschland, sich nicht ernsthaft beschäftigen zu müssen.

Deutschland koppelt sich von westlichen Werten ab. Und bekommt es nicht einmal mit. Schlimmer als die Rückständigkeit in diesem Land ist nur noch die Selbstgewissheit, mit der es sich fortschrittlich fühlt. Das Land in Europa, das zu Demokratie und Menschenrechten gezwungen werden musste, ist der irrigen Meinung, anderen Ländern da irgendwie voraus zu sein. In Deutschland glaubt ein Großteil der Bevölkerung tatsächlich, man sei nicht homophob, wenn man das nur von sich behauptet.

Als die Deutschen im letzten Jahr Fußball-Weltmeister wurden, konnten sie sich nicht damit begnügen, die bessere Fußball-Mannschaft zu haben. Sie mussten sich auch noch davon überzeugen, Toleranz-, Respekt- und Vorbild-Weltmeister zu sein. Deutschland kommt sich so großartig vor, dass es nicht mehr mitbekommt, was um es herum gerade Großartiges passiert.

Vor einem Jahr wunderte sich der ARD-Eurovisons-Kommentator darüber, dass ausgerechnet die katholischen Iren ihre zwölf Punkte an Conchita Wurst vermachten.

Nicht nur die wundern sich heute über uns. ♦

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Weitere Beiträge in diesem Blog zum Thema:

Weil Toleranz böse ist: Einmal Akzeptanz bitte. Pur!

Wegen Conchita Wurst: BILD-Politikchef Anda gewinnt Homophobie-Bingo

 

6 Gedanken zu „Schäme Dich, Deutschland!

  1. Bravo Irland, das stellt ein glänzendes Vorbild dar. Und Deutschland tritt weiterhin auf der Stelle mit seiner spießigen Verpartnerung.

    Die längst überfälligen Forderungen – volle Anerkennung bzw. Installierung der Homo-Ehe und Homo-Adoption – bleiben, wie es zuletzt durch Heiko Maas und Steffen Seibert unbekümmert verkündigt wurde, in Deutschland weiterhin unerfüllt:

    Merkel ist der Bremsklotz. Sie hat 35 Jahre DDR-Vergangenheit in sich; daraus und aus dem Umstand dass sie eine Pfarrerstochter ist, erklärt sich noch nicht allein ihre Verknocherung und Hinwendung zu sogar streng konservativen Pietisten aber sie schadet damit Deutschland, das mehr und mehr ins gesellschaftspolitische Hintertrefennen gerät.

    Neben dem erzkatholischen Irland – so sieht es ja jetzt aus aus – sind auch Spanien und Frankreich allen Widerständen entgegengetreten, ebenso das konservativ regierte UK; Benelux (in Luxemburg heiratete sogar der Ministerpräsident kürzlich seinen Mann) und Skandinavien sowieso. Aber sie kann sich nicht Durchringen, Deutschland weider auf das Maß fortschrittlicher Familienpolitik zu bringen und diese schließt im Jahre 2015 die Belange der LGBTs voll mit ein.

  2. War ja klar, für die Diskriminierung im heutgen Deutschland ist mal wieder die DDR schuld …

  3. Der Artikel ist ganz interessant aber jeder soll nach seiner Verfassung selig werden wir sind eine offene Familie

  4. Des ( partiellen) Deutschseins habe ich mich bereits an der Schule zu schämen gelernt, als die Thematik auf den Holocaust kam.

    Aber die Fortschrittsbremsung glaube ich zumindest auf anderen Sachgebieten vorher gesehen zu haben. Das Ganze hat wohl mit der Trägheit deutscher Traditionen zu tun, aber auch mit der beständigen Einmischung der Religion in das staatstragende Geschick. Damit meine ich nicht die merkel’sche Fußangel als Priestertochter, denn die östlichen Bundesländer können dafür wenig, dass die da her stammt. Dieser religiöse Pilz stammt aus viel früheren Verbrüderungen des konservativen Geistes mit den Mächten des Klerus. Auch während des Holocaust wurden diese Verbrüderungen gelebt und erneuert, die Gesetze daher teils übernommen, und der Einfluss bis heute beibehalten. So verkommt unser Glaube, dass es sich bei Deutschland um einen säkularen Staat handle, zu einem sanften darüber Hinwegsehen, dass dem nicht so ist. Para-säkular, bestenfalls.

    Und darin finden wir auch eine der hauptsächlichen Fortschrittsbremsen, gehe es nun um Dinge wie Sterbehilfe, Pränatale Implantations-Diagnostik, Stammzell-Differenzierungs-Forschung oder eben die Gleichberechtigung von GLBTIQ-Personen und Heterosexuellen.

    Deutschland hat es ja gern, wenn andere von uns eine Scheibe abschneiden. Dass es auch von anderen mal eine Scheibe abschneiden darf, fällt Deutschland äußerst schwer. Mit jedem Schritt nach vorne gleichzeitig ein-einhalb Schritte irgendworin zurück zu gehen, scheint auch eine so typisch deutsch-akrobatische Anstrengung zu sein.
    Wir können diese putzigen Eigenschaften pflegen, oder aber auch neue Wege einschlagen, insofern die deutsche Gangart das zulässt, welche sich das Bein beim Gehen ganz oft selbst in den Weg stellt.

    Ja, dakann man sich für schämen, oder aber drüber lachen, weinen. Ich bin mir noch nicht so sicher, welches angebracht ist.

    Mit 6 Jahren Alter habe ich mir immer vorgestellt, als Erwachsener einen anderen Mann zu heiraten. Mir war ja gar nicht klar, dass die Utopie einer Zukunft so langsam voran kommen könnte, dass ich mit knapp 45 immer noch davon nur träumen darf.

    Vielleicht ist Schämen doch das Angebrachte. Vor anderen Ländern, wo die schon viel weiter sind.

  5. “ Das Land in Europa, das zu Demokratie und Menschenrechten gezwungen werden musste“

    Jetzt dreht ihr Homos aber völlig frei.

    Millionen Tote nur um Demokratie und Menschenrechte zu verbreiten. So wie im Irak auch…

    Und Finger weg von unseren Kindern!!!

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