Der Berliner Christopher Street Day soll am 25. Juli in einer Onlinevariante stattfinden – das teilten das CSD-Team am Mittwochabend auf Anfrage des Tagesspiegel mit.
Der CSD reagiert damit auf der Verbot von Großveranstaltungen bis mindestens zum 31. August, das Bund und Länder heute wegen der Coronakrise beschlossen haben.
Man habe davon „enttäuscht“ Kenntnis genommen, heißt es – dass der CSD 2020 am 25. Juli nicht wie geplant stattfinden wird, sei aufgrund der aktuellen Situation aber „natürlich verständlich“: „Der Schutz von Menschenleben geht absolut vor.“
Um dennoch den Forderungen nach Gleichberechtigung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in Deutschland und weltweit Ausdruck zu verleihen, arbeite man jetzt an einem Konzept, „diese wirkmächtig digital stellen zu können“.
Tagesspiegel vom 16.04.2020
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht mit der schlimmen Plattitüde mit den Menschenleben. Natürlich geht der Schutz vor Menschenleben vor, dieses – nicht nur im übertragenen Sinne – Totschlagargument tut so, als wäre es zuletzt wirklich darum gegangen, ob der Berliner CSD im Juli wie geplant hätte stattfinden können. Das hätte er natürlich nicht.
Dass der Berliner CSD e.V. also jetzt erst reagiert und sich enttäuscht zeigt, kündet von einer Weltfremdheit, die eigentlich nicht überbieten ist. Ist sie aber doch. Und damit kommen wir zum ersten Satz dieser Zeilen, also zur Bekanntmachung, der diesjährige Berliner CSD solle in einer „Online-Variante“ stattfinden. Noch hirnrissiger als so zu tun, als habe man bis zum Schluss realistisch damit rechnen können, den CSD wie geplant durchzuführen, ist es, den Eindruck zu erwecken, als könne man einen digitalen CSD abhalten. Natürlich kann man digital eine Menge machen. Das hätte man übrigens schon vor der Corona-Krise tun müssen, etwa um die Community besser in das inhaltliche und organisatorische Geschehen des Pride zu integrieren.
Aber ein digitaler CSD ist kein CSD. Er ist so ziemlich das Gegenteil davon. Wer einen digitalen CSD ausruft, sollte ganz schnell darüber nachdenken, ob er überhaupt verstanden hat, was ein CSD überhaupt ist. Wer einen digitalen CSD ausruft, ist wohl schon zu lange in der Logik angekommen, dass es sich bei der Planung eines Prides vor allem um Eventplanung handelt. Der CSD als Marke, die irgendwo stattfinden muss. Dann halt im Internet. So ein Blödsinn. Ja, man kann eine Cola-Marke auch im Internet inszenieren. Aber man kann keine Cola im Internet trinken.
CSDs sind keine Events, keine Konzerte, bei denen Veranstalter eine Zielgruppe ein Programm vorsetzen. Ja, es gibt Programm bei den CSDs, aber dieses heißt zu Recht „Rahmenprogramm.“ Der eigentlich Kern der Prides besteht im physischen Zusammentreffen der Community. Jeder und jede ist Protagonist und Beobachter zugleich. Vor allem viele kleine Initiativen, vor allem Gruppen, die es eher schwer in die mediale Aufmerksamkeit schaffen, erreichen durch die CSDs die Menschen, die Unterstützung und die Beachtung, von denen sie das ganze Jahr zehren.
Und es geht eben darum, gemeinsam auf der Straße sein, gemeinsam den öffentlichen Raum erobern. Auch wenn es nur für wenige Stunden, nur auf wenigen Straßen ist: Es geht immer noch darum, sich etwas zu trauen. Viele LGBTI sind in ihrem Umfeld, die allermeisten sogar in ihrem Job nicht geoutet. Die CSDs sind also auch Beatmungsmaschinen: CSD heißt immer noch, die Luft „Out of the Closet“ zu inhalieren. Frei atmen können und womöglich die Entscheidung treffen, dies in Zukunft auch in allen Lebensbereichen tun zu wollen. Es geht also darum, sich zu spüren, um Niederschwelligkeit, Zufälligkeit. Zufällige Begegnungen sind das Gegenteil von Algorithmen. Jede Aktivität, jede Begegnung im Internet hat zur Voraussetzung, dass ich mich vorher definiere, absichere, in einem erwartbaren Rahmen aufhalte und jeder und jede weiß, dass ich mich durch einen Knopfdruck aus dem Geschehen entfernen kann.
Auf dem CSD geht es darum, sich zu zeigen. Sich so zu zeigen. Sich im wahrsten Sinne zu verorten. Das unbeschreibliche Gefühl, gemeinsam zu erleben, was wir sonst nie erleben können: Mehrheit zu sein. Und noch unbeschreiblicher: Jeder und jede ist des anderen Schutz. Und fast noch unbeschreiblicher: Der und die andere sind zum allergrößten Teil Menschen, mit denen ich sonst nichts zu tun habe. Von denen ich aber unausgesprochen weiß, was mich mit ihnen verbindet. So entsteht Community wegen und nicht trotz ihrer Gegensätze, weil wir nicht nur unser eigenes Anderssein feiern, sondern auch das der anderen. Und diese Community überlebt, weil wir uns in ihr immer wieder vergewissern. Wir schauen uns in die Augen, wir nehmen uns wahr, wir erleben, dass wir das, was wir sind, nicht alleine sind, auch wenn wir es völlig unterschiedlich sind.
Um beim Cola-Beispiel zu bleiben. Wenn es gerade keine Cola geben darf, gibt es mehrere Möglichkeiten: Man kann sagen, dann warten wir eben, bis das wieder möglich ist. Wir verzichten und freuen uns umso mehr darauf, wenn es wieder geht. Oder wir verschieben, so wie es der Kölner CSD-Verein KLuST getan hat, der den Colognepride auf den Oktober verlegt hat. Oder man könnte fragen, unter welchen Bedingungen das Colatrinken denn unter jetzigen Bedingungen noch möglich ist.
Denn wer sagt eigentlich, dass ein CSD per se eine Großveranstaltung ist? Zunächst ist er ja im Kern eine Demonstration, beziehungsweise sollte er es sein. Was Artikel 8 des Grundgesetzes regelt, ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
Doch dieses Recht kann für „Versammlungen unter freiem Himmel“ durch Gesetze beschränkt werden. Es wird also in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder politisch und juristisch überprüft und erkämpft werden müssen, wie die Demonstrationsfreiheit in Einklang mit den Infektionsschutz-Regelungen zu bekommen ist. Erst gestern hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass pauschale Verbote von Demonstrationen nicht verfassungskonform sind. Würde der Berliner CSD sich also zunächst einmal als Demonstration statt als Event begreifen, müsste ihm es jetzt darum gehen, sich zu überlegen, wie Demonstrationsformen unter veränderten Bedingungen irgendwie möglich sind. Denn der CSD ist ja kein Selbstzweck, keine Show, die irgendwie weitergehen muss. Die CSDs sind keine Konzertbühnen, sondern Motor unserer Emanzipationsbewegung und die Hilferufe aus Polen haben ja in diesem Jahr besonders deutlich gemacht, wie groß die Erwartungen an diese Bewegung sind, gemeinsam dafür zu kämpfen, dass LGBTI überall besser und freier leben können.
Natürlich kann kein CSD bis Ende August wie geplant stattfinden und diese Klarheit ist für alle Beteiligten wichtig. Aber nur, weil CSDs zuletzt oft wie Volksfeste stattfanden, heißt das ja nicht, dass CSDs Volksfeste sein müssen. Natürlich werden wir nicht alle gleichzeitig auf die Straße können, aber vielleicht kann es ein Teil von uns, können wir es zeitversetzt, in Distanz zueinander, vielleicht in kleineren Einheiten machen, die, keine Ahnung wie, irgendwie miteinander verbunden sind. Vielleicht fahren wir unsere Forderungen und Botschaften durch die Innenstädte auf Fahrzeugen, auf denen keine Leute stehen müssen. Vielleicht fragen wir, ob wir unsere Botschaften in Schaufenster hängen können? Vielleicht malen wir unsere Regenbogen auf die Straße. Vielleicht klappt das auch alles nicht. Aber warum diskutieren wir nicht erstmal über das Wie, bevor wir über das Ob entscheiden?
Als ich gestern solche Ideen auf Facebook diskutiert habe, habe ich sehr viele spannende Vorschläge erhalten, wie man den öffentlichen Raum mit unseren Forderungen füllen könnte, wie wir uns mit Abstand trotzdem begegnen können. Nein, das wird nicht einfach. Ja, wir müssen ganz neu denken und uns Neues trauen. Aber es ist notwendig, weil unser Kampf notwendig ist. Und wenn wir es nicht könnten, wären wir nicht da, wo wir jetzt sind.
Nur eines sollten wir nicht:
Tun wir bitte nicht so, als ob ein CSD auch im Internet stattfinden könnte. ♦
Stonewall war keine Onlinepetition
Mein Vorschlag für einen wirklich politischen Berliner CSD 2020
Dringender Hilferuf aus Polen an die deutsche Community und den Berliner CSD
Alle Beiträge zum Thema Corona und Community hier.
Aktuell: In der neuen Folge meines QUEERKRAM-Podcasts (präsentiert von queer.de) erzählt Ralf König über das Zeichnen in Quarantäne und darüber, wie er gerade Köln erlebt Er diskutiert mit mir über Political Correctness und sagt, was ihn an den alten Bully-Herbig-Filmen stört. Hört mal rein …
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