Eskalation zwischen Berliner CSD und queer.de: Die Community muss handeln!

In der Berliner Community eskaliert gerade ein zerstörerischer Konflikt, der nicht nur die beiden streitenden Institutionen, die involvierten Personen, sondern auch die Community möglicherweise über Jahre erheblich belasten und teuer zu stehen kommen könnte. Denn im juristisch ausgetragenen Streit zwischen queer.de und dem Berliner CSD e.V. um mittlerweile widerlegte Vorwürfe schwerer finanzieller Unregelmäßigkeiten gegen zwei Vorstände geht es auch um Geld. Geld, das auf beiden Seiten für Arbeit für die Community dringend gebraucht wird, aber nun droht verbrannt zu werden. Es geht aber auch um immaterielle Ressourcen, die dabei sind, in diesem Konflikt unter die Räder zu kommen. Statt der Fokussierung auf unsere gemeinsamen Ziele droht Spaltung und Streit innerhalb der Community, aber auch ihr öffentliches Bild. Menschen, die sich eigentlich für eine gemeinsame Sache engagieren, drohen zu Gegnern zu werden, drohen zerrieben zu werden, weil es in der juristischen Logik am Ende nicht mehr um die Sache, sondern ums recht haben gehen muss.

Das Problem ist: Keine der Parteien macht dies leichtfertig. Sie haben ihre Gründe, die aus ihrer jeweiligen Sicht nachzuvollziehen sind. Und da der Konflikt gerade juristisch ausgefochten wird, ist es für beide schwer nachzugeben, ohne eigene Interessen und Rechtspositionen aufs Spiel zu setzen.

Es gibt dennoch Hoffnung, dass eine derzeit laufende Schlichtung unter Leitung des Berliner Queerbeauftragten Alfonso Pantisano die verworrene Situation auflösen kann. Das wäre ein großer Erfolg, auf den alle Beteiligten mehr stolz sein könnten. Es könnte ein Signal sein, was in unserer Community unter schwersten Bedingungen alles möglich ist. Es könnte aber auch ein Beispiel dafür sein, wie wichtig es ist, dass wir die unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben in unserer Community besser verstehen und wertschätzen. Dass wir verstehen, wie all das zusammengehört. Dass wir genauer hinschauen, was die Menschen an unterschiedlichen Positionen eigentlich tun, was sie da eigentlich für uns alle leisten. Und das alles unter schwierigsten Bedingungen, weil wir es als Community nicht schaffen, diese Institutionen angemessen auszustatten. Dazu möchte dieser Text einen Beitrag leisten.

Es kann aber auch sehr sein, dass dies nicht gelingt. Dann reicht es nicht von Community-Seite aus zu sagen: “Einigt Euch!”. Auch deshalb nicht, weil hier nicht nur die Konfliktparteien, sondern auch die gesamte Community in der Verantwortung steht, mit zu der Lösung des Konfliktes beizutragen. Dieser Text ist also auch eine Vorwarnung. Denn zur Lösung des Konfliktes beizutragen könnte auch heißen, dass Geld bereitgestellt werden muss, weil es am Ende Geld sein kann, über das man sich nicht einigen kann. Geld, das das Verfahren bisher gekostet hat und das, selbst, wenn jede der Parteien einen Anteil davon bereit zu tragen ist, immer noch strittig ist. In diesem Falle wäre meiner Meinung nach ein Crowdfunding die beste Lösung. Wenn möglichst viele aus der Community einen kleinen Beitrag beisteuern, können wir gemeinsam ein Schreckensszenario abwenden.

Denn dieser Konflikt betrifft die gesamte Community nicht nur durch den Schaden, der für sie entstehen könnte. Der Konflikt betrifft auch deshalb die Community, weil seine Ursachen auch in den Strukturen der Community begründet liegt. Strukturen, die – je nachdem wie man es sehen möchte – die Community so geschaffen hat, oder jedenfalls nicht gewillt oder in der Lage ist, zu ändern.

Dazu gehörten u.a. ein mittlerweile gigantischer CSD-Apparat, an den einerseits enorme Erwartungen gerichtet sind, der aber andererseits von einer Gruppe Ehrenamtler*innen geleitet werden soll. Dass der Berliner CSD seit Jahren in berechtigter und unberechtigter Kritik steht, hat auch damit zu tun, dass es schwer ist, gute Leute zu finden, die sich diesen undankbaren Job antun. Aber auch damit, dass es die Community nicht schafft, den CSD angemessen zu finanzieren. Würde jede CSD-Besucher*in auch nur einen Euro spenden, müssten wir über all dies hier nicht reden.

Ein anderes strukturelles Problem ist, dass es kaum mehr unabhängige, journalistisch arbeitende queere Medien gibt, die Missstände innerhalb und außerhalb der Community kritisch beleuchten. Die Erfolge unseres Emanzipationskampfes in den letzten Jahren wären ohne diese Medien nicht möglich gewesen. Wir alle haben enorm von ihnen profitiert. Doch kaum einer ist dazu bereit, auch nur einen kleinen Beitrag zu leisten.

Ein gut funktionierender CSD und gut funktionierende queere Medien bedingen einander. Wir müssen beide stärken. Wir dürfen nicht zusehen, wie sich beide durch einen aus dem Ruder laufenden Streit gerade zu schwächen drohen. Auch wenn es einen juristischen Gewinner geben wird, werden alle auch verlieren.

Natürlich sind an diesem Streit nicht nur strukturelle Ursachen schuld. Es sind auch Fehler gemacht worden. Ich finde, auf beiden Seiten.

Im Kern geht es um eine Verdachtsberichterstattung von queer.de über schwere finanzielle Unregelmäßigkeiten, die zwei CSD-Vorständen zu Last gelegt wurden. Um es vorweg deutlich zu sagen: Dieser Verdacht hat sich nicht bestätigt. Die beiden Vorstände haben sich diese Verfehlungen nicht zuschulden kommen lassen. Da bei solchen Geschichten gerne doch etwas hängen bleibt, da Vorwürfe auch dann oft noch um Raum umherschwirren, wenn sie längst widerlegt sind, ist es wichtig, dass sich das ohne Wenn und Aber herumspricht. Dass der Ruf der beiden Vorstände wieder ein guter ist, ist auch eine Voraussetzung dafür, dass der Streit beendet werden kann. Denn genau dafür kämpfen die beiden Vorstände und genau dafür kämpft auch der CSD e.V. .

Doch wie konnte es zu den öffentlichen Anschuldigungen kommen?

Vorwürfe über angebliche “Machenschaften” im CSD-Vorstand gibt es schon länger. Sie haben, so meine Einschätzung, zumindest teilweise auch mit inneren, auch persönlich ausgetragenen Konflikten innerhalb des CSD-Vereins zu tun, damit, dass Menschen, die dort nicht oder nicht mehr in der ersten Reihe stehen, denen schaden wollen, die nun Verantwortung tragen. Denn der aktuelle Konflikt zeigt auch, was an anderer Stelle unbedingt mal aufgearbeitet werden müsste: Dass der Berliner CSD seit Jahren nicht zur Ruhe kommt, hat wenig wie oft behauptet mit politischen Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten über die organisatorische oder strategische Ausrichtung zu tun. Sondern offensichtlich damit, dass seit Jahren eine kleine Gruppe von Männern den jeweiligen aktuellen Vorstands-Teams mit offenen und verdeckten Attacken größtmöglich zu schaden versucht. Es sind kleingeistige altberliner Machtspielchen wahrscheinlich frustrierter Menschen, denen nicht an einem funktionierendem CSD gelegen ist.

Doch abgesehen davon gibt es natürlich gibt es an der aktuellen Situation des Berliner CSDs einiges zu kritisieren. Vor allem die Über-Kommerzialisierung, die teilweise dekadente Formen angenommen hat.

Einer der schlimmsten Ausfälle war wohl, dass der CSD dem Axel-Springer-Verlag bei seinen Pink-Bashing-Bemühungen im letzten Jahr nach dessen schlimmen queerfeindlichen Entgleisungen tatkräftig unterstützte, und ihm nicht nur einen Wagen auf der Parade zubilligte, sondern auch dessen verlogenes Narrativ reproduzierte, bei den verlogenen Attacken gegen Queers zur Abo-Steigerung handele es sich doch nur um schützenswerte “Meinungsfreiheit”. Damit fiel der CSD nicht nur anderen Community-Institutionen in den Rücken, sondern sendete das fatale Signal, dass Queerfeindlichkeit ein lohnendes Geschäft sein kann. Eine Presseanfrage, die ich an den CSD-Vorstand zu diesem Thema gerichtet hatte, ließ dieser unbeantwortet. Ein CSD-Vorstand, der einen offensichtlich schmutzigen Deal mit Axel Springer macht, sich aber gegenüber queeren Medien nicht erklären kann oder möchte, macht sich leicht angreifbar.

Noch obskurer wird die Sache dadurch, dass einer der beiden CSD-Vorstände in einer Doppelrolle unterwegs ist, nämlich zusätzlich auch noch in leitender Funktion für ein Unternehmen arbeitet, das ausgerechnet Geld damit verdient, als Agentur CSD-Wagen an Firmen zu vermitteln. Nach welchen Kriterien hier wer in welcher Rolle welche Entscheidungen zu wessen Gunsten trifft, darüber schafft der CSD-Vorstand nicht den Hauch einer Transparenz.
Andererseits: Der CSD-Vorstands-Kollege war bereits mit der Vermittlung von CSD-Wagen befasst, bevor er in den Vorstand gewählt wurde und machte daraus auch nie ein Geheimnis. Die CSD-Mitgliederversammlung wusste also um diesen möglichen Interessenskonflikt. Zwar hätte man auch vom Vorstand erwarten können, sich angesichts der angreifbaren Situation klaren transparenten Compliance-Regeln zu verpflichten, aber es ist auch ein Scheitern der Mitgliederversammlung, eine solche nicht erwirkt zu haben.

Der Berliner CSD ist also nicht unbeteiligt daran, dass er wegen seines Geschäftsgebarens in der Kritik steht und damit auch daran, dass ein besonders kritischer medialer Blick auf ihn notwendig erschien.

Die Vorwürfe, die queer.de dann aber schließlich zum Anlass seiner Berichterstattung machte, hatten eine ganz andere Qualität. Es ging um mögliche Straftaten, Vorteilsnahme, den Verdacht auf Geldwäsche, angeblich ominöse Überweisungen in die Schweiz. Zur Klarheit auch an dieser Stelle noch einmal wiederholt: All diese Vorwürfe sind widerlegt. Sie entstammen allerdings nicht der Fantasie der Kolleg*innen von queer.de, sondern wurden detailliert aufbereitet und aufgelistet von einem ehemaligen Vorstandmitglied, das überraschend zurückgetreten war und diesen Rücktritt mit den angeblich problematischen Vorgängen begründete. Queer.de lag diese detaillierte Auflistung der Vorwürfe vor. Der Kritik des zurückgetretenen Vorstandes, so las sich der mittlerweile gelöschte queer.de-Artikel, wurden wohl auch von kenntnisreichen Leuten aus dem CSD-Umfeld befeuert.

Die Frage ist also: Wie hätte queer.de mit diesen an sie herangetragenen Vorwürfen umgehen sollen? Zunächst einmal: queer.de hat sich diese Vorwürfe nie zu eigen gemacht, sondern darüber berichtet, dass es sie gibt. Das Problem an Verdachtsberichterstattung ist, dass es sich um Verdachtsberichterstattung handelt, dass hier also Dinge in den Raum gestellt werden, von denen nicht bekannt ist, ob sie tatsächlich stimmen.

Verdachtsberichterstattung ist ein wichtiger Bestandteil der medialen Wächterfunktion. Wenn nur über Vorwürfe berichtet werden dürfte, die bereits erwiesen sind, könnten ein Großteil der Machenschaften in Politik, Unternehmen und Institutionen nicht aufgeklärt werden.
Verdachtsberichterstattung ist daher ausdrücklich erlaubt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats und des Bundesverfassungsgerichts darf eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft, demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, solange nicht untersagt werden, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (Art. 5 GG, § 193 StGB).

Das Vorstandsmitglied eines der größten CSDs in Deutschlands tritt zurück und begründet das mit angeblichen oder möglicherweise strafbarem Verhalten anderer Vorstandsmitglieder, die zum Schaden des Vereines und somit auch zum Schaden des diesen Verein stützender Community gehandelt haben sollen. Es ist schwer zu bestreiten, dass diese Vorwürfe eine “die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit” darstellen. Es ist erst recht eine “wesentlich berührende Angelegenheit” für die queere Öffentlichkeit und dass queer.de als führendes deutschsprachige journalistische Nachrichtenmagazin solche Vorwürfe zum Thema macht, ist mehr als nachvollziehbar. Oder andersherum: Ist es nicht genau die Erwartung an ein unabhängiges aufklärerisches Magazin, genau darüber zu schreiben? Mal angenommen, die Vorwürfe hätten gestimmt: Welche Mauschelei-Vorwürfe hätte man queer.de zu recht gemacht, hätten sie sich nicht des Themas angenommen?

Hier beginnen allerdings die Vorwürfe, die man queer.de machen muss.

Verdachtsberichterstattung unterliegt strengen Sorgfaltspflichten. Medien, die mit Berufung auf das öffentliche Interesse über einen Verdacht berichten, sind verpflichtet

(…) dass vor Aufstellung oder Verbreitung der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt werden. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten.

Ob queer.de diese Aufklärungspflichten eingehalten hat, darüber wird gerade gestritten. queer.de gibt an, dass es den betreffenden Vorständen bzw. dem CSD-Vorstand mit den Vorwürfen konfrontiert hat und diesen somit Gelegenheit gegeben hatte, diese zu erläutern und aus dem Weg zu räumen. Die queer.de-Anfrage blieb aber unbeantwortet. queer.de hatte also die harte Entscheidung zu treffen, ob es die Vorwürfe trotzdem thematisiert.

Formal gesehen ist das Vorgehen von queer.de möglicherweise richtig. Welche anderen Aufklärungsmöglichkeiten hätte man juristisch noch erwarten können? Was man queer.de auf jeden Fall vorwerfen muss, ist die geringe Frist von 48 Stunden, die sie den Vorständen gewährten. Eine solche Frist mag bei kommerziellen Unternehmen gerechtfertigt sein, aber hier geht es um einen gemeinnützigen Verein am Rand seiner Kapazitäten, dazu einen, der ohne geschäftsführenden hauptamtlichen Vorstand agiert. Hier geht es um Ehrenamtler, die sich für die gemeinsame Sache engagieren und weder Erfahrung damit haben noch darauf vorbereitet sind und sein können, auf solche Vorwürfe zu reagieren.

Doch das ist für mich nicht das Entscheidende: In einer Community und besonders für ein Community-Medium wie queer.de müsste es auch andere Möglichkeiten geben, ins Gespräch zu kommen. Gerade bei solch weitreichenden Vorwürfen, gerade in einer Community, wie wir es sind, kann man sich nicht nur auf formale Regeln berufen.

Und hier wieder andererseits: Die CSD-Vorstände hätten es einfach gehabt, mit einer Antwort, einem Widerspruch die Berichterstattung in dieser Form zu verhindern. Durch ihre Verweigerung der Antwort haben auch sie ihren Anteil daran, dass alles so gekommen ist. Auch sie hätten auf ein persönliches Gespräch bestehen können, einen Aufschub verlangen. Ich weiß nicht, ob sie aus Kalkül oder aus Überforderung nicht mit queer.de kommunizierten. Auf jeden Fall halte ich auch das für einen Fehler.

Am 2. Juni erschien der queer.de Bericht mit den, wie wir heute wissen, unberechtigten Vorwürfen schwerer Verfehlungen. Für die beiden Vorstände muss das der Horror gewesen sein, zumal queer.de, auch das muss man ihnen vorwerfen, ihre Klarnamen verwendete.

Ich habe einmal erlebt, wie es ist, wenn in der Presse üble Falschbeschuldigen über einen selbst verbreitet werden. Damals hatte die Süddeutsche Zeitung mir in einer emotional eh sehr aufgeladenen Debatte ein Falschzitat untergejubelt, mit dem es mich zum Cancel-Culture-Hetzer erklärte, was für mich weitreichende Folgen hatte. Im Unterschied zum Fall queer.de/Berliner CSD berichtete die SZ nicht über Vorwürfe, sondern war es selbst, die diese erhob. Mir wurde jedoch anders als bei queer.de/Berlner CSD kein strafbares Verhalten vorgeworfen. Trotzdem kann ich erahnen, wie es ist, so ungerechtfertigt so am Pranger zu stehen. Rufmord ist in diesem Zusammenhang ein starkes, ein übertriebenes Wort. Aber es deutet darauf hin, wie schlimm es ist, sich in einer solchen Situation zu fühlen. Das Problem ist, dass die Leute den Skandal mehr lieben, als sie sich dafür interessieren, was wirklich vorgefallen ist. Das Problem ist, dass Schadenfreude ein Gefühl ist, dass die Leute offensichtlich schwer zurückhalten können. Das Problem ist, dass es einfach ist, sich damit rechtfertigen zu können, dass an der ganzen Sache schon irgendwas dran sein muss. Und wenn nicht, dann hat dann wahrscheinlich noch nicht die Falschen getroffen.

Doch das stimmt nicht. Ja, beim CSD läuft einiges schief. Ja, man muss den beiden CSD-Vorständen vorwerfen, nicht für mehr Transparenz, nicht für klarere, bessere Regeln in Sachen CSD-Wagen gesorgt zu haben. Doch so wichtig es auch ist, die Entwicklung zu kritisieren, die der Berliner CSD in den letzten Jahren genommen hat: Für diese Entwicklung können diese beiden Vorstände nichts. Nach allem, was ich überblicke, sind die beiden – im Gegenteil – eher ein Glücksfall für den Berliner CSD. Sie sind nicht nur die Organisationsprofis, die der CSD lange gebraucht hat, sie haben die desaströse Finanzsituation beendet, also in gewisser Weise dabei geholfen, den CSD vor dem Abgrund zu bewahren. Aber auch in anderer Hinsicht haben die beiden dazu beigetragen, Abgründe zu überwinden: Während es vergangenen Vorständen offensichtlich schwerfiel, sich etwa eindeutig von Rassismus zu distanzieren, merkt man – bei allen immer noch vorhandenen Schwierigkeiten – dem jetzigen Vorstand an, wie sehr er darum bemüht ist, einen inklusiven CSD zu gestalten. Dass sie viel dafür tun, das gesamte Themenspektrum der Community abzubilden und möglichst alle Teile der Community zu repräsentieren.

Es spricht viel dafür, dass die gestreute Kritik, auch damit zu tun hat, dass einige von denen, die den Job in der Vergangenheit nicht so gut gemacht haben, nicht damit klarkommen, dass die beiden es jetzt so viel besser machen.

Es sind also zwei Vorstände, die zu Recht das Gefühl haben, vieles richtigzumachen, die aber, so ist das eben leider in unserer Community, sich vor allem mit Kritik herumschlagen müssen, vor allem damit konfrontiert sind, was alles nicht läuft. Bei allen undankbaren (unbezahlten) Jobs muss man sich den eines CSD-Vorstandes wohl als einen der undankbarsten vorstellen.

Um so mehr kann ich nachvollziehen, wie sehr die beiden sich durch den queer.de Artikel getroffen gefühlt haben. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihn wie eine existentielle Bedrohung empfunden haben, Rufmord eben, die persönliche Integrität infrage gestellt, Hilflosigkeit. Möglicherweise haben sie Jobs dadurch verloren. Oder – was fast noch schlimmer ist – können nicht einschätzen, welche nicht bekommenen Jobs mit dieser Geschichte zu tun haben. Das Ungreifbare, alles, was zwar gedacht, aber nicht ausgesprochen wird von Freunden wie Feinden, von Geschäftspartnern oder neuen Bekannten, dürfte mit das Bitterste in einer solchen Lage sein.

Ich psychologisiere hier, weil der Zeitpunkt nach dem Erscheinen des Artikels die Gelegenheit gewesen wäre, die weitere Eskalation zu verhindern. queer.de sagt, mit einem klärendem Gespräch hätte man schnell zu einer Lösung kommen können, zu einer Klarstellung, dass die Vorwürfe unberechtigt sind. queer.de beklagt, dass einer der beiden Vorstände und der CSD-Vorstand selbst stattdessen zu völlig unangemessenen juristischen Mitteln gegriffen haben.

Noch am Tag des Erscheinens bekam das Medium eine anwaltliche Abmahnung und die Aufforderung zu einer Unterlassungserklärung, die 17 Punkte betraf. Dies könnte dafür sprechen, dass sich die Betroffenen detailliert schon im Vorfeld mit der Abwehr der Vorwürfe befasst haben. Wenn dem wirklich so war: Warum haben sie sich dann nicht erklärt, bevor der Artikel erschien? Wollten sie queer.de bewusst in eine Falle laufen lassen?
Ich verstehe, dass queer.de das anwaltliche Vorgehen als größtmögliche Einschüchterung versteht, das zumindest mit in Kauf nimmt, das chronisch unterfinanzierte Community-Medium in seiner Existenz zu gefährden.

queer.de teilt mit:

“Sowohl der Berliner CSD e.V. als auch (…) als Privatperson gehen in parallelen Verfahren gegen uns vor. Beide klagen nicht nur gegen unser Unternehmen, sondern unnötigerweise auch gegen unser Redaktionsmitglied Jeja Klein persönlich. Damit haben sich die Kosten bereits vervierfacht.

Darüber hinaus legte der Anwalt des Berliner CSD e.V. mit Erfolg Beschwerde gegen den vom Landgericht Berlin festgelegten, für ihn zu niedrig befundenen Streitwert ein, was die Kosten weiter erhöht.

Am 1. September erfuhren wir, dass der CSD-Vorstand eine Strafanzeige gegen Jeja Klein wegen übler Nachrede und Verleumdung gestellt hat. Die Strafanzeige ist eine Einschüchterung und hat keine Aussicht auf Erfolg. In einer Pressemitteilung (…) kündigte der CSD-Anwalt zudem an, „Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend machen“ zu wollen.”

Nach Angaben von queer.de ist hiermit eine Drohkulisse aufgebaut, die das Medium selbst von bei hartnäckigsten Queerfeind*innen erlebt hatte, die beabsichtigt hatten, ihnen größtmöglich zu schaden.

Ist es dem CSD-Vorstand bewusst, dass seine Verteidigungsstrategie durch die größtmögliche Eskalation davon profitiert, dass sich hier ein Medium wehren muss, das mit durch seine Verteidigung in die Situation gebracht wird, um das eigene Überleben zu kämpfen? Dass es hierbei auch um mehr als um queer.de geht, sondern generell um queere Pressefreiheit? Und das in einer Lage, da die meisten queeren journalistischen Angebote bereits verschwunden sind, es also wirklich nur noch wenige Medien gibt, die es schaffen, sich mit großen Kraftanstrengungen zu behaupten? Die SIEGESSÄULE, die zu diesen wenigen gehört, kommentiert in ihrer Oktober-Ausgabe:

“Nun hat der aktuelle Vorstand (…) ausgerechnet das unabhängige Online-Medium queer.de mit einer einstweiligen Verfügung und der Androhung von Strafanzeigen in eine bedrohliche Situation gebracht. Was für große Verlage vielleicht kein Problem ist, könnte queer.de die Existenz kosten. Das müsste dem Vereinsvorstand eigentlich bewusst sein. In einem offenen Brief an alle Vereinsmitglieder rief nun im September queer.de dazu auf: `Stoppt das Verfahren, das auch in eurem Namen geführt wird!´ Denn: `In der Vergangenheit haben sich nicht einmal christliche Fundis oder andere ausgewiesene Queerfeind*innen bemüßigt gesehen, so massiv und auf so breiter Front juristisch gegen queer.de vorzugehen. Diesen gefühlten Rachefeldzug können wir beim besten Willen nicht nachvollziehen´ Dem haben wir nichts hinzuzufügen.”

Ich finde die Sorge von SIEGESSÄULE und queer.de berechtigt und es sollte die Community aufhorchen lassen, wie eindeutig zwei der letzten großen queeren journalistischen Medien hier Position beziehen.

Nein, der Streit zwischen dem CSD-Vorstand und queer.de ist kein guter Zeitpunkt, das Popcorn herauszuholen. Es könnte uns allen im Hals stecken bleiben.

Ja, in ihrer Funktion wäre es die Aufgabe der beiden CSD-Vorstände und mit ihnen des gesamten CSD-Vorstandes, die Konsequenzen ihres Handels für den gesamten Verein (den das ganze sehr viel Geld kosten könnte) im Blick zu behalten. Aber auch für die gesamte Community, deren Interessen er ja zu vertreten hat.

In der Satzung des Berliner CSDs heißt es:

“Der Vereinszweck soll insbesondere erreicht werden durch die Schaffung von Öffentlichkeit und Sichtbarkeit, die Einnahme von öffentlichem Raum, die demonstrative Umkehrung von Mehrheitsverhältnissen, die Zusammenarbeit mit anderen gesellschaftspolitischen und Menschenrechtsorganisationen, durch Aufklärung und Bildung sowie durch Verhandlungen und andere nicht-öffentliche Maßnahmen.”

Mit den Zielen eines solchen Vereines kann es unmöglich vereinbar sein, die Existenz einer der wichtigsten queeren Stimmen in Deutschland aufs Spiel zu setzen.

Doch verstehe auch insbesondere die beiden betroffenen CSD-Vorstände. Sie fühlen sich hier, und sind es ja auch, ganz persönlich maximal getroffen.

Ich kann das nachvollziehen. Nach den Anschuldigungen durch die Süddeutsche Zeitung fühlte ich mich fast schon körperlich wie gelähmt und habe über fast nichts anderes nachgedacht als darüber, wie ich mich bestmöglich wehren kann. Statt einer nüchternen Abwägung war ich in einem Tunnelblick, den ich an mir nicht kenne: Keine Ahnung, wohin mich das führt, was das kostet, ob ich mir das leisten kann. Das Ganze darf – egal wie – nicht so stehenbleiben. Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, wie ich gegen queer.de vorgegangen wäre.

Es hilft nichts, nur auf einen professionellen und verantwortungsvollen Umgang der beiden Vorstände mit der Situation zu pochen. Hier fühlen sich zwei Menschen getroffen, die ihre Freizeit für eine gute Sache opfern, kaum Lob und Dank dafür bekommen. Und dann sowas. Das ist maximal ungerecht.

Aber Ähnliches gilt eben auch für queer.de, die zwar Profis und keine Ehrenamtler*innen sind, die Risiken einer solchen Auseinandersetzung nicht aus Eigennutz, sondern aus Prinzipien eingehen, die für uns alle erstrebenswert sein müssten: Eine unabhängige und freie Presse, die frei von Existenzbedrohung ihrer Aufklärungs- und Wächterfunktion nachkommen kann.

Ja, beide Parteien haben Fehler gemacht. Aber diese Fehler sind entstanden in Zusammenhang mit super wichtigen, ehrenwerten, aber fast unlösbar großen Aufgaben, mit denen wir als Community die betreffenden Personen und Organisationen ziemlich alleine lassen.

Egal wie dieser Konflikt ausgeht, wir stehen alle in der Pflicht. Wenn es zu keiner Einigung kommt, sollten wir das mit dem Crowdfunding gestemmt bekommen. Aber auch wenn sich queer.de und der Berliner CSD einigen können, ist nicht alles gut. Damit wir nicht hier oder an anderer Stelle in ähnliche Situationen geraten müssen wir etwas tun. Uns engagieren, etwa Mitglied werden beim CSD-Verein oder einer der vielen anderen Community-Organisationen. Oder eben spenden, an den CSD-Verein, an queer.de oder anderswo.

Für jede und jeden einzelnen geht nicht um viel. Es geht nur darum, dass wir es wirklich machen. Eine schlagkräftige Community gibt es nicht umsonst. Ich bin mir sicher: Jeder und jede kann etwas tun. ♦

Offenlegung: Mein QUEERKRAM-Podcast erscheint in Kooperation mit queer.de, wird aber von mir redaktionell und wirtschaftlich völlig unabhängig von queer,de betrieben. Ich bin und war nie Teil der queer.de-Redaktion. 

Frühere Beiträge zum Thema:

Trans als Trigger: Wie die „Welt“ den Kampf gegen lästige, obskure Minderheiten befeuert  – 2. Juni 2022 auf uebermedien.de

Was hat Axel Springer auf dem CSD zu suchen? – 4. Juni 2022 im Nollendorfblog

Berliner CSD-Vorstände relativieren Rassismus  -21. Juni 2020 im Nollendorfblog 

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