Impfskepsis und Homophobie: Warum mehr Aufklärung (fast) nichts bringt

Was ich mir genauso wenig vorstellen konnte wie zuvor diese Pandemie: Die Unfähigkeit unserer Gesellschaft, sich aus der Pandemie zu befreien, auch wenn sie die dafür nötigen Mittel zur Verfügung hat.

 Als am Anfang dieses Jahres endlich geimpft wurde, dachte ich wirklich, dass wir uns lediglich in einem Rennen mit der Zeit befinden, dass es also ein Kampf mit äußeren Umständen ist. Und nicht mit uns selbst. Ich war mir sicher, dass die einzige große Herausforderung dieses Jahres für ein möglichst schnelles Corona-Ende darin bestehen würde, möglichst schnell die für eine Herdenimmunität ausreichende Menge an Impfdosen zur Verfügung zu haben.

Was für eine Fehleinschätzung! Und was für eine irre Situation! Doch was noch mehr irre ist: Dass wir nicht an ihr verzweifeln, dass wir mehr oder wenig geduldig hinnehmen, dass diese Katastrophe weitergeht, obwohl wir sie nun bald hätten beenden könnten. Dass wir nicht daran verzweifeln, dass diese “Impflücke” nicht nur die Diskrepanz zwischen notwendigen und tatsächlichen Impfzahlen beschreibt, sondern auch die zwischen dem Willen einer Gesellschaft, sich zu retten und ihrer Fähigkeit, dies auch zu tun. 

Anders als viele Impfkritiker behaupten, läuft die gesellschaftliche Entwicklung gerade nicht in Richtung Diktatur. Die Herrschaftsform, die unsere derzeitigen Verhältnisse am ehesten beschreibt, ist wohl die der Idiokratie: Wir sind denen ausgeliefert, die sich auf Unsinn stützen. Die wenigen, die sich auf gefühlte Wahrheiten verlassen wollen, haben uns in der Hand. Sie verhindern das möglichst schnelle Wohlergehen aller. Nicht “die” Politiker und nicht “der” Staat halten uns davon ab, frei und sicher zu sein. Wir sind es selbst. Wir vermögen es nicht, eine ausreichende Anzahl an Menschen davon zu überzeugen, das einzig Sinnvolle zu tun.

Immer wieder hören wir, dass endlich besser aufgeklärt werden müsse. Ja, das kann sicher nicht schaden. Doch wird auch das wohl leider die Situation nicht entscheidend ändern helfen. 65 % der bisher Ungeimpften gaben  noch bis vor Kurzem an, sich in den nächsten zwei Monaten „auf keinen Fall“ impfen lassen zu wollen. Sie sagen nicht: Ich möchte noch mehr wissen. Sie sagen: Ich will nicht mehr wissen. Wir haben ein Aufklärungsproblem. Aber nicht in dem Sinne, dass es an Aufklärung fehlt. Sondern, dass Aufklärung im Prinzip egal ist. 

Als schwuler Mann kommt mir das sehr bekannt vor. Auch bei einem anderen gesellschaftlichen Problem, dem der Homophobie und Queerfeindlichkeit, heißt es immer wieder, mehr Aufklärung sei die Lösung. Doch auch das dürfte mittlerweile als widerlegt gelten: In der heutigen Zeit gibt es fast nicht, was man über queere Menschen nicht wissen kann. Eigentlich weiß jeder, dass wir weder kleine Kinder fressen, noch sie lesbisch oder schwul machen, noch, dass die Heteros jetzt nur deswegen weniger heiraten, weil die Homos das jetzt auch dürfen. Und die, die all das trotzdem glauben, werden das auch noch tun, wenn man sie über die Unsinnigkeit ihrer Annahmen aufgeklärt hat.

Hinter der Forderung nach Aufklärung und mehr Bildung steckt meist der Reflex gebildeterer Kreise, ungebildeteren Bevölkerungsschichten das in die Schuhe zu schieben, was sie selber im Kopf nicht klar bekommen. Gebildete Kreise halten sich für per Definition nicht homophob, auch wenn sie sich dezidiert homophob und queerfeindlich äußern. Einige der schlimmsten queerfeindlichen Ausfälle der letzten Monate kamen von Menschen, die sowohl fürs Gebildet-sein als auch fürs Denken bezahlt werden und das Vertrauen renommierter Institutionen besitzen. Wie z. B. SPIEGEL-Kulturchef Sebastian Hammelehle mit seinem trans-feindlichen Quatsch oder Sandra Kegel, die Feuilleton-Chefin der FAZ, die über die Situation queerer Menschen ähnlich krudes  und gefährliches Zeug verbreitet wie Sahra Wagenknecht über Corona.  

Karl Lauterbach hat in  einem Video-Talkformat des SPIEGEL gemutmaßt, dass Sahra Wagenknecht wohl Unsinn über Corona verbreitet, obwohl sie es besser weiß. Auch von Sandra Kegel dürfen wir annehmen, dass sie es eigentlich besser weiß. Z. B., dass queere Rollen im ZDF nicht – wie von ihr behauptet – „überproportional“ sind.

Doch warum setzen intelligente und gebildete Leute wie Sandra Kegel und Sebastian Hammelehle (in Sachen „queer“) und Sahra Wagenknecht wie auch der Philosoph Richard David Precht (in Sachen Corona) mit wirren Aussagen ihre Reputation aufs Spiel? 

Nun, weil solche Aussagen wenig mit Meinung und noch weniger mit Expertise zu tun haben. Es handelt sich, ganz einfach: um Ressentiments.

“Ressentiment” bedeutet so viel wie “heimlicher Groll”. Jeder weiß von sich selbst, wie schwer es die eigene Ratio gegen ein tief sitzendes Grollen hat. Im Grollen sind wir wie kleine Kinder. Wir wollen es einfach nicht. Kein Gemüse. Nicht Aufräumen. Nicht ins Bett gehen. Das ist so verständlich wie das tiefe, heimliche Grollen vieler Heteros darüber, dass sie ihre liebgewonnene Hetero-Welt öffnen müssen für all die skurrilen Queer-Menschen. Das ist so verständlich wie das tiefe, heimliche Grollen vieler Welterklärer*innen darüber, dass das Eigentliche, was sie jetzt zu sagen hätten (nämlich: “Lasst Euch impfen!”) ihren Intellekt unterfordert. Und dass Corona – wie eine narzisstische Kränkung – unverschämterweise ihr Selbstbild des sinnstiftenden Genius herausfordert.  

Für all das kann man Verständnis haben. Aber Ressentiments sind keine Meinung, sondern eben: Ressentiments. Nur wenn wir sie als das bezeichnen, was sie sind, können sie an Macht verlieren. Sowieso. Aber mitten in einer Pandemie erst Recht!

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