Seit dem Überfall Putins auf die Ukraine ist Zeitenwende ist das Wort der Stunde. Und es stimmt ja: Täglich erfahren wir von Dingen, die bis vor kurzem unvorstellbar waren und die Weltordnung wird eine andere sein.
Jedoch hat diese Wende nicht vor wenigen Wochen mit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine begonnen, auch nicht mit dem Überfall auf die Krim, sondern noch davor, vor knapp neun Jahren. Denn schon mit den russischen Anti-Homo-Gesetzen 2013 geschah so etwas wie Zeitenwende, die jedoch – mit wenigen Ausnahmen – nur aus queerer Perspektive als solche erlebt wurde. Natürlich qualitativ und quantitativ in einer ganz anderen Dimension, nicht mit den Bomben, der mörderischen Vernichtung, der Zerstörung, dem Terror und der Gefahr für den Weltfrieden. Und trotzdem war die damalige staatlich initiierte Aggression gegen Homosexuelle ein Kulturbruch. Sie war der Anfang von etwas, das wir jetzt erleben.
Dass die Anti-Homopolitik kein Nebenkriegsschauplatz war, sondern Putin damals schon das Kriegsfeld bereitete, auf dem wir uns heute bewegen, wird deutlich, wenn wir uns die Machtsituation des Kreml-Chefs von damals genauer anschauen.
Eine 2020 produzierte BBC-Doku, die das ZDF ins Deutsche übertragen hat, beschreibt Putin vor zehn Jahren als einen angeschlagenen Herrscher auf Sinnsuche, der dringend eine neue Agenda, einen Zukunftsplan benötigte. Nach dem vierjährigen Intermezzo der Präsidentschaft Medwedews hatte sich Putin 2012 erneut zum Präsidenten wählen lassen.
Sergei Guriew, der während dessen Amtszeit Berater von Medwedew war, beschreibt die Situation in der Doku so:
Putin brauchte eine neue Basis für die nächste Amtszeit. Er konnte dem Volk keine Vision, keine Zukunft bieten. Das Wachstum stagniert. Seine Zustimmungswerte sanken um ganze 20 Prozentpunkte. Er brauchte neue Ideen, die er der Öffentlichkeit präsentieren konnte.
Miriam Elder, die damals für den britischen “Guardian” Korrespondentin in Moskau war, ergänzt:
Anfangs reichte es sich von der Vergangenheit abzugrenzen und zu sagen: „Ich stehe für ein neues gesundes Russland“. Aber dann musste eine Veränderung her. Ich glaube, es war Anfang 2013, als in Regierungskreisen erstmals Stimmen gegen die LGBTI-Community laut wurden. Ein halbes Jahr später kam das Gesetz gegen Homosexuellen-Propaganda. Landesweit bildeten sich Bürgerwehren. Homosexuelle wurden über Dating-Apps in die Falle gelockt und brutal zusammengeschlagen. Videos davon kursierten im Internet.
Denniz Yüzel hat in seinem Essay in der WELT dargestellt, wie wichtig der Homo-Hass für Putins Krieg gegen die Ukraine ist. Allerdings ist nichts von dem, was Putin jetzt über Homosexuelle sagt und welche Rolle sie für seine Ideologie, seinen Macht- und Gewaltanspruch sagt, neu. Schon damals, also vor zehn Jahren war die angeblich homosexuelle Dekadenz das Synonym des dekadenten Westens, dem sich Russland zu Wehr setzen muss. Schon damals beschwor er Homosexualität zum Staatsfeind, beschwor ein russisches überlegenes Volk, das, um sich zu bewahren, sich gegen die Gefahr der verweichlichten und gefährlichen homosexuellen Ideologie erwehren müsse. Jan Fleischhauer (!) schrieb 2014 über Putins Argumentionen: „Seine ideellen Bezugspunkte liegen im Faschismus.“
Im Juli 2014 fragte der SPIEGEL den faschistischen russischen Philosophen Alexander Dugin, den “Vordenker Putins”, in einem Interview:
Was werfen Sie dem dekadenten Westen vor?
Dugin: Dass er uns seine Kriterien aufzwingen will. Bei Ihnen gibt es Gay-Paraden – okay, dann marschiert. Dass es bei uns keine gibt, haltet ihr für eine Verletzung der Menschenrechte. Und wir sagen daraufhin: Haut ab!
Putins großer Krieg nach außen begann wie so viele Kriege mit der nach innen gerichteten Erklärung einer Minderheit zum Feind, gefolgt von gezielter Stimmungsmache, Ausgrenzung und Verfolgung.
Es ist für mich unvorstellbar, dass viele Politiker*innen und Medienleute uns heute erzählen, Putin hätte uns erst jetzt, also nach dem Angriff auf die Ukraine, sein wahres Gesicht gezeigt.
Es ist für mich unvorstellbar, dass viele Politiker*innen und Medienleute heute immer noch die Propaganda von “Sicherheitsinteressen” als Motivation für Putins Handeln nachplappern. Denn Putins Doktrin ist ja nicht mehr Sicherheit für sein eigenes Land, sondern die Zerstörung der Sicherheit von Menschen, die keinerlei Gefahr für ihn sind. Man nennt es Terrorismus.
So wie der Westen den Angriff auf die Ukraine zurecht als Angriff auf sich und seine Werte begreift, hätte er das auch 2013 müssen. Keine Ahnung, ob man die heutige Eskalation Putins hätte verhindern können, wenn das Putin-Verstehertum damals nicht vor allem ein massives Beschwichtigen von fast allen Seiten gewesen wäre. Putin hatte wohl vor allem Glück, dass man im Westen – und man muss schon sagen: vor allem in Deutschland – das irgendwie nicht so schlimm fand, was damals mit den Homos passierte. Jedenfalls nicht so schlimm, dass man da irgendwas tun müsse. Putin hatte auch das Glück, dass er seine Homo-Verfolgung im Vorfeld der im eigenen Land stattfindenden Olympischen Winterspiele von 2014 in Sotschi platzieren konnte. So konnte er ein Szenario schaffen, mit dem er die Solidarität des Westens mit seinen eigenen Werten testen konnte. Und die war so gut wie nicht vorhanden.
Wenn man sich anschaut, mit welchen Argumenten die Olympischen Spiele in Peking dieses Jahres von offiziell westlicher Seite gemieden wurden, ist es schwer zu verstehen, warum keines dieser Argumente damals in Sotschi zum Zug kam. Als es darum ging, ein Zeichen gegen Putins faschistisch begründete Aggressionspolitik zu setzen, setzten Deutschlands Lieblinge lieber ein Zeichen für Putin.
Zur Erinnerung: Franz Beckenbauer (damals noch keine tragische, sondern immer noch Lichtgestalt) hielt an seiner vom russischen Ölverband bezahlen Gaga-Funktion als „russischer Sportbotschafter“ fest, obwohl diese ganz offensichtlich nur den Zweck hatte, die Kritik an der Fußball-WM in Russland und der Olympiade in Sotschi zu untergraben. Dass der Fußballbundesligist Schalke 04 damals sein Gazprom-Sponsoring nicht hinterfragte, habe ich damals schon als Brüskierung der verfolgten queeren Community gesehen. Denn Gazprom ist ja nicht etwas, das man sich an der Tankstelle oder sonstwo kaufen kann. Bei der Trikot-Werbung ging es ja nie um Verkaufs- oder Imageförderung für ein Produkt. Sondern um Werbung für ein dreckiges System und darum, die Kritik an diesem System abzufedern. Bundespräsident Gauck schwänzte die Sotschi-Spiele, wollte dies aber nicht politisch begründen. Bundeskanzlerin Angela Merkel war selbst das zu viel.
SPIEGEL ONLINE berichtete damals, Merkel halte es für falsch,
dass der Bundespräsident zuließ, dass seine Absage als politisches Signal eines Boykotts gewertet wird. Dies desavouiere die russische Regierung.
Putins Spiele hatten sich für ihn gelohnt. Er konnte damit rechnen, dass dem Westen seine Werte um Zweifel nicht viel wert sein würden. Kurze Zeit später annektierte er die Krim.
Im August 2014, also nach der Homo-Verfolgungspolitik, dem Angriffskrieg auf die Ukraine, den politischen Morden und dem Unterdrücken der Zivilbevölkerung, meinte der Philosoph und Bestsellerautor Richard David Precht in einem Interview mit dem österreichischen „Kurier „ („Precht: Die EU handelt unverantwortlich“):
Russland und Deutschland kann man nicht vergleichen. Ich würde jemanden wie Putin in Deutschland niemals an der Macht sehen wollen. Aber wir müssen erkennen, dass Russland ein ganz anderes Land ist. Wir können unsere Maßstäbe nicht überall in der Welt genau gleich anlegen.
Was der Lieblingsphilosoph der Deutschen als “Maßstäbe” verschwurbelt, müsste eigentlich “Menschenrechte” heißen. Und sowas braucht der Russe nicht. Und sowas kann der Russe eben nicht. Eben ein ganz anderes Land. Was für ein rassistischer Scheiß!
Der Putinkitsch konnte sich in Deutschland deswegen so hartnäckig halten, weil er durch eine unheilige Allianz zusammengehalten wurde. Hier fanden sich bis in die jüngste Zeit opportunistische Wirtschaftsbosse, konservative bis reaktionäre Starker-Mann-Fetischisten und starrköpfige Linke zusammen. So unterschiedlich ihre Verklärungen und Projektionen in Bezug auf Putin auch waren, so ähnlich war ihnen, wie egal ihnen die Situation der durch Putin angegriffenen Homosexuellen war. Diese fehlende Empathie rächt sich jetzt. Wer den Schutz von Minderheitenrechten zum Luxusproblem deklariert, erklärt unser Wertefundament zum Luxus. Wer die Freiheit der anderen nicht achtet, wird die Freiheit der vielen nicht schützen können.
US-Präsident Barack Obama begründete die Rolle der NATO für Europa bei seiner Rede im April 2016 in Hannover so:
Die Welt hängt von einem demokratischen Europa ab, das die Grundsätze des Pluralismus, der Vielfalt und der Freiheit, die unser gemeinsames Glaubensbekenntnis sind, hochhält. Als freie Völker können wir nicht zulassen, dass (…) Ängste um die Sicherheit oder wirtschaftliche Ängste – unser Engagement für die universellen Werte untergraben, die die Quelle unserer Stärke sind.
Damals schrieb ich darüber hier im Blog:
Neben der Freiheit sind es nach Obama also Pluralität und Vielfalt, die ein starkes Europa ausmachen. Und zwar nicht als Gedöns, nicht als Almosen der Gesellschaft für ihre Minderheiten. Sondern als universale Werte, die unseren Kontinent stark machen und die es zu verteidigen gilt.
Jetzt nach Putins Angriff auf die Ukraine muss sich Europa darüber klar werden, was für uns Stärke bedeutet. Also: Wofür wir einstehen möchten.
Obama war damals in seiner Sicherheits-Rede ziemlich klar:
„Am wichtigsten ist vielleicht, dass wir an die Gleichheit und die jedem Menschen innewohnende Würde glauben. Heute haben die Menschen in Amerika die Freiheit, die Person zu heiraten, die sie lieben.“
Das Schlimme ist, dass sich in Deutschland sowohl Putin-Versteher*innen als auch Putin Kritiker darin einig sein, dass dem nicht so ist. Für sie bedeutet Stärke nicht mehr Emanzipation, sondern weniger.
Symptomatisch dafür ist, welche Schlussfolgerungen WELT-Chefredakteur Ulf Poschardt aus dem russischen Angriff auf die Ukraine zieht:
Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männertoilette verteidigt, eher am Hindukusch und ganz konkret bei unseren Freunden in der Ukraine, in Kiew, in der Ostukraine und im ganzen Land.
Wer nicht will, dass Putins innere Logik siegt, muss den Poschardts dieses Landes von Wagenknecht bis Weidel widersprechen. Unsere Freiheit wird nämlich genau dort verteidigt: Am Tampon-Behälter in der Männertoilette. Dabei ist die Konfliktlinie nicht, ob es dort solche Behälter geben soll oder nicht. Die Konfliktlinie ist, ob wir Auseinandersetzungen darüber, wie wir Selbstbestimmung und Emanzipation erreichen als Schwäche oder als Stärke begreifen.
Ob wir, um es mit Obama zu sagen, an Pluralismus, Vielfalt, Gleichheit und an die “in jedem Menschen innewohnende Würde” glauben, wird über unsere Stärke zur Freiheit entscheidend sein.
Es ist Zeitenwende. Das bedeutet auch, Zeit, sich zu fragen, wo wir stehen.
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Mehr im QUEERKRAM-Podcast: Was bedeutet Putins Krieg gegen die Ukraine für queere Menschen? Wie konnte es so weit kommen? Was können wir tun, wie können wir helfen? Darüber spreche ich mit der ukrainischen Filmemacherin und Journalistin Inga Pylypchuk und dem Quarteera-Co Gründer Wanja Kilber. Nehmt Euch bitte diese gute Stunde und hört Euch an, was diese beiden zu sagen haben. Den von queer.de präsentierten QUEERKRAMPodcast gibt es überall, wo es Podcasts gibt oder hier.
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