Die schrecklich-nette Homophobie der „Zeit“

Auf der Titelseite der „Zeit“ der letzten Woche hat sich in einem Artikel über die Gründe des Orlando-Anschlags folgender Satz versteckt:

„Homophobie ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die enormen Emanzipationsgewinne der Schwulen und Lesben.“

Dieser Satz ist ein Hammer.

Ungefähr so ein Hammer wie der, dass der Rassenhass in Amerika nicht zuletzt eine Reaktion ist auf das Verbot der Sklaverei. Oder der, dass der Antisemitismus nicht zuletzt eine Reaktion ist auf die Gründung des Staates Israel.

Die Emanzipation, die Befreiung, der Selbstschutz, die Selbstbestimmung sind Schuld, und nicht das, was das alles angreift und behindert. Oder, konsequent zu Ende gedacht: Der Schwarze, der Jude, der Homo.

Das Schlimme (weil so brilliant-heimtückische) an diesem Satz ist, dass er einfach für sich steht, also nicht als gewagte These diskutiert wird, sondern als Allgemeinplatz, der keiner weiteren Begründung bedarf. Und dass er es gleichzeitig schafft, all das zu verinnerlichen, was das homophobe State of the Art dieser Tage ausmacht:

Die vermeintliche Harmlosigkeit, dieses gaulandsche: war ja nicht so gemeint, ich hab ja nur die Fakten gesagt, die Umkehrung der Täter-Opfer Logik und die implizierte Andeutung, dass Emanzipation ein „Gewinn“ für die einen in dem Sinne ist, dass er anderen irgendetwas weg nimmt, dass es also um einen Gruppenvorteil geht und nicht um Gerechtigkeit und Gleichheit, und somit etwas, was allen zugute kommt. Dass er im Prinzip nicht nur die Ursachen von Homophobie auf den Kopf stellt und somit unsichtbar macht, sondern auch die Chancen und Möglichkeiten, diese zu überwinden.

Doch noch schlimmer als der Satz selber ist, dass man überhaupt begründen muss, was an ihm so schlimm ist, dass er – anders als wenn er von Beatrix von Storch oder von der „Jungen Freiheit“ stammen würde – sich nicht rechtfertigen muss, keinen nennenswerten Protest auslöst, sondern in dem Common Sense auflöst, in den er hineingeschrieben ist.

Das Schlimme an diesem Satz ist, dass ein homophober Satz in der Zeit nicht als ein homophober Satz gilt, da er ja in der „Zeit“ steht.

Dass das einfach so durch geht, zeigt, wie sehr die Autosuggestion vieler Links-Intellektueller fortgeschritten ist, in Sachen Entsolidarisierung ein Teil der Lösung, und nicht des Problems zu sein.

Natürlich sind es die neuen Rechten, die die Stimmung gegen Minderheiten, und insbesondere auch gegen Homosexuelle anheizen.

Doch ihr Erfolg, ihre Debattenmacht ist vor allem deshalb möglich, weil die Dehnung des Sagbaren nicht nur durch die Verschiebung des Parteienspektrums nach rechts stattgefunden hat, sondern dadurch, diese Verschiebung in allen „Milieus“ mitgerückt ist, also auch im links-intellektuellem, das in Deutschland publizistisch besonders durch die „Zeit“ repräsentiert wird.

Doch die „Zeit“ hatte nicht nur keinen Sensor für den Paradigmenwechsel. Sie hat ihn selbst mit vorangetrieben, am sichtbarsten durch die (neben dem Chefredakteur und den Herausgebern) wohl markansteste öffentliche Figur, ihren Magazin-Kolumnisten Harald Martenstein.

Martenstein ist eine der deutschen Integrationsfiguren für all die, die ihre Ressentiments kultivieren, sich dabei aber doch noch irgendwie links und aufgeklärt fühlen wollen. Er steht für das Bemühen der „Zeit“, ihren Lesern das Wohl-Gefühl zu vermitteln, mit Homophobie und Rassismus nichts zu tun zu haben. Wir sind die netten. Das Problem sind die anderen. Dabei wäre es in den letzten Jahren ihre Aufgabe als eine der führenden links-liberalen Meinungsmedien gewesen, die eigene Klientel mit ihrem eigenen Versäumnissen beim Engagement für gleiche Rechte und gegen Diskriminierung zu konfrontieren, die Codes der Entsolidarisierung zu entschlüsseln und LGTBI als Menschenrechts – und nicht als Minderheitenthemen zu begreifen.

Stattdessen Martenstein, der schon vor sieben Jahren, als ich hier begann, über die wachsende Aggression gegen Homosexuelle zu schreiben, die eigentlichen aggressiven Übeltäter unter den Homosexuellen ausmachte (ja, das ist tatsächlich mein allererster Blogbeitrag).

Er ist nicht so dumpf und eindimensional wie AfD Politiker, immer ironisch, selbstironisch, er lästert, statt zu pöbeln und karikiert, statt offen zu beleidigen. Und doch bildet seine Agenda das immer bedrohlicher klingende Grundrauschen, auf dem die Besorgten Bürger ihre Angriffe blasen. Martenstein sieht sein Hetero-Mannsein von Feministinnen und Minderheiten bedroht und ist ein Vorkämpfer gegen alles, was irgendwie mit Gendergerechtigkeit zu tun hat. Schon bevor Amerikas Rechte die Frage, auf welche Toilette Transgender gehen sollten, zur Frontlinie eines neuen Kulturkampfes erklärten, hatte Martenstein begriffen, dass Trans- und Intermenschen ein besonders dankbares Opfer für seine Stimmungsmache sind.

Chefredakteur Giovanni di Lorenzo findet das nicht problematisch. Im Gegenteil. Auf uebermedien.de erklärte er, Martenstein sei ein

“ .. ein Antikonformist par excellence und ein glänzender Kolumnist. Wenn man das, was er geschrieben hat, in ein paar Jahren nachliest, wird man vermutlich feststellen, dass er wie nur wenige den Blick für die Exzesse des Zeitgeistes hatte, auch für die Übertreibung der Political Correctness. (…) In erster Linie stellt er sich gegen den Mainstream und ist oft sehr lustig.“

Dass der Kolumnist „oft sehr lustig“ ist , kann man sicher so sehen. Dass er aber „wie nur wenige den Blick für die Exzesse des Zeitgeistes hatte“ ist mehr als abstrus angesichts einer Grundstimmung im Land, die vor allem davon geprägt ist, dass ihm Minderheiten ganz gehörig auf den Geist gehen. Martenstein stellt sich nicht gegen den immer gruseligeren Mainstream. Er bläst ihn mit auf, und malt ihm dabei gleichzeitig ein harmloses, nettes Gesicht.

So nett, dass alle Beteiligten einen hammerhomophoben Satz einfach übersehen. Weil es Homophobie in der „Zeit“ nicht geben kann, weil die „Zeit“ ja nicht homophob ist. Und wenn auf der Titelseite doch ein homophober Satz steht, dann kann da irgendwas nicht stimmen. Mit der Homophobie.

Mehr in diesem Blog zu Harald Martestein: Gute Homos, böse Flüchtlinge

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36 Gedanken zu „Die schrecklich-nette Homophobie der „Zeit“

  1. Ich unterschreibe und unterstreiche jeden Satz!!!

    Es muß bald fünf oder sechs Jahre her sein, als ich die ersten Ungeheuerlichkeiten von Gabriele Kuby las – „der“ Homoverschwörungstheoretikerin im deutschsprachigen Raum. Damals wurde mir eine Analogie bewußt. Und die hat schon was mit den oben beschriebenen Entwicklungen zu tun – nur auf andere Weise…
    Es hatte in Deutschland bis zum ersten Weltkrieg einen immer schwelenden Antisemitismus gegeben. Aber immerhin wurden in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende die Juden immer sichtbarer, es gab eine gewisse Normalität des Umgangs im Alltag.
    Diese Normalität allerdings stieß den Rassisten auf. So entstanden neue Hetzinstrumente wie u.a. die immer noch virulenten (siehe Fall Gedeon in der AfD) „Protokolle der Weisen von Zion“…die Verhetzung wurde dann immer bewußter voran getrieben. Aber selbst für den totalitär verfügten Massenmord an den Juden brauchten die Nazis einige Jahre juristischer und psychologischer Vorbereitung. Es wurde soviel Gift bis zum Beginn des 2. Weltkrieges verspritzt, es wurden die Juden so sehr entmenschlicht und als Weltbedrohung dargestellt (die internationale plutokratische Verschwörung der „Finanzjuden“), daß durch dieses dauernde Einhämmern endlich doch etwas Böses hängenblieb…
    Man konnte sich selbst rechtfertigen für seinen Alltagsrassismus: irgendwas wird ja schon dran sein…
    Schriften wie Kubys „Die globale sexuelle Revolution“ oder Scott Livelys „Pink Swastika“ sind in dieser niederträchtigen Tradition zu sehen…erst in den letzten Tagen befleißigte sich auch wieder Birgit Kelle daran über WELT und BILD die Chimäre der internationalen Schwulenlobby, die sich über die Genderwissenschaft in Politik und Gesellschaft einnisten wolle als Konstrukt des Hasses in die Debatte zu bringen…
    Die permanenten Ausfälle aus Kreisen der AfD, der Rechtskatholiken um Beverfoerde und der Evangeliban um Storch – und die des beurlaubten Religionslehrers, der nach Petersburg emigrieren möchte – sind in jener Tradition zu sehen.
    Natürlich sind es Haßausfälle, die die Grenzen des Sag,- Denk- und schließlich auch Machbaren (wie es immer von dieser Seite kommt) austesten…
    Aber selbst wenn sie noch keine von jenen gewünschte Reaktion zeitigen, sie träufeln Haß und MIßtrauen, das Gift der Entmenschlichung in die Köpfe…
    Darum geht es zunächst einmal vor allem – die Homosexuellen wieder zu stigmatisieren und sie zu marginalisieren…der nächste logische Schritt zur Absonderung wird schon vorbereitet.

    Das Sichtbarwerden der Homosexuelle in den letzten Jahrzehnten seit der AIDS-Krise hat also Analogien zum Sichtbarwerden der Juden vor 100 Jahren. Wie lange wollen wir noch warten, bis aus dieser traurigen Logik Wirklichkeit wird?

  2. Flüchtlingsdebatte: Wie Zeit Online mit Desinformation Stimmung gegen junge Muslime macht

    Zeit Redakteur Martin Klingst leistet sich in dem Artikel „Flüchtlingsunterkünfte: Gefährliche Langeweile“ (Junge muslimische Männer, die wochenlang unbeschäftigt in Heimen warten – kann das explosiv werden?) vom 24.9.2015 entweder eine ungeheuerliche Fehlleistung oder den manipulativen Versuch Stimmung gegen junge Muslime herbeizuschreiben.

    Klingst im Wortlaut:

    Und in einer Untersuchung der Fachhochschule Dortmund im Auftrag des Familienministeriums aus diesem Jahr steht: „Gewaltanwendungen, die von Jugendlichen muslimischer Herkunft angeführt werden, sind sehr vielfältig.“ Oft beruhten diese auf einem bestimmten Bild von Männlichkeit sowie der bedingungslosen Verteidigung der Familienehre.

    Dieser Absatz enthält zwei gravierende Fehler. Zum einen stammt die Studie der Fachhochschule Dortmund aus dem Jahr 2010. Viel schwerer noch wiegt allerdings die Tatsache, dass Klingst das Zitat so beschnitten hat, dass die ursprüngliche Aussage der Wissenschaftler durch das Weglassen entscheidender Passagen völlig entstellt wird und in der Version des Zeit-Autoren eine komplett andere Botschaft entsteht, die von den zahlreichen rechtslastigen Kommentatoren des Artikels dankend aufgegriffen wird.

    https://machtelite.wordpress.com/2015/09/24/fluechtlingsdebatte-wie-zeit-online-mit-desinformation-stimmung-gegen-junge-muslime-macht/

  3. Der Satz ist unglücklich formuliert, ganz klar. Allerdings muss man ihn nicht zwangsläufig als Rechtfertigung verstehen, sondern vielleicht auch nur als Beschreibung der generellen Situation.
    In diesen aufgeheizten Zeiten, in denen sich rechte Verlierer der Gesellschaft immer neue Opfergruppen suchen, werden der homosexuellen Gemeinschaft die Fortschritte und Anerkennung geneidet, die in den letzten Jahren (Jahrzehnten) zuteil geworden ist.
    Wenn es einem selbst (gefühlt) schlecht geht, dann wird mit Verachtung auf die herabgeschaut, die vermeintlich mehr (mediale, soziale, finanzielle…) Aufmerksamkeit bekommen.
    Den Hass spüren nicht nur Homosexuelle, sondern auch Juden, Muslime, Einwanderer etc.
    Daher verstehe ich den Satz (so alleine wie er hier wiedergegeben wurde, ohne Kontext) nicht als Rechtfertigung für homophobes Verhalten, als vielmehr eine Beschreibung der Lage in diesen populistischen Zeiten.

  4. Für sich genommen -unabhängig davon, zu welchem Zweck sein Autor ihn verwendet und davon, was in dessen Artikel sonst noch steht- beschreibt der Satz den Ist-Zustand, wie auch ich ihn empfinde. Schwulenfeindlichkeit hat es immer schon gegeben. Sie begleitet mich mein ganzes Leben lang. In regelrechten Hass umgeschlagen ist sie mit Beginn der Gesetzesdiskussion um die Lebenspartnerschaft, und dieser Hass hat sich mit jedem weiteren Schrittchen hin zur -ja immer noch nicht erreichten- rechtlichen Gleichstellung und gesellschaftlichen Akzeptanz gesteigert. Seit der Jahrtausendwende hat sich der Feldzug gegen uns deutlich verschärft. Wurde er anfangs nur von ewiggestrigen Christen und Politikern aus CDU, CSU und FDP geführt, ist er inzwischen in der politischen Mitte angekommen und hat nunmehr eine 80%ige Mehrheit im Bundestag gewonnen. Eine rechtsradikale Bewegung „Besorgte Eltern“ ist entstanden, die ihre hasserfüllten Parolen auf öffentlichen Straßen und Plätzen verbreitet. Regierung und Parlament stufen Staaten, die Schwule in ähnlicher Weise wie Deutschland einst mit seinem Nazi-Paragraphen verfolgen, als „sicher“ ein. Ein Jahrzehnt lang versuchten deutsche Verwaltungs- und Finanzgerichte, Schwule und Lesben, die in Lebenspartnerschaften gleiche Pflichten wie Ehepaare eingegangen waren, gleiche Rechte zu verweigern. Die Bundeskanzlerin stellt ihre privaten homofeindlichen Emotionen über die Grundrechte und sagt das ohne Scheu in aller Öffentlichkeit. In zahllosen Fernsehdiskussionen öffentlich-rechtlicher Sender dürfen Schwulen- und Lesbenhasser ihre Hetze verbreiten und erfahren -anders als z.B. Rassisten oder Antisemiten- nicht gesellschaftliche Ächtung, sondern den Schutz freier „Meinungsäußerung“. Das alles ist Folge zunehmender Emanzipation von Schwulen und Lesben – nicht nur die Akzeptanz wird größer, sondern auch der Hass, und er wird immer ungehemmter ausgelebt. Sollte jemand daraus konstruieren, Schwule und Lesben seien mit ihren Forderungen selbst schuld an dieser zunehmenden Verschärfung des Heterosexismus, ist das natürlich Unfug. Unsere Emanzipation ist nicht Ursache des Hasses, sondern unsere Feinde empfinden jedes neue Schrittchen zu unseren Gunsten als bittere Niederlage und toben deshalb desto wilder gegen uns.

  5. Ich empfehle, die folgenden Bücher zu lesen: Hans Mayer, Aussenseiter, 1983, sowie G. L. Mosse: Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen, 1985

  6. Es ist bedauerlich, dass der Blogbeitrag meinen Leitartikel so falsch deutet. Besonders der letzte Absatz lässt keinen Zweifel daran, dass ich als Konsequenz des homophoben Massakers aufrufe, „für die Liebe der Schwulen und Lesben zu kämpfen“.
    Was die Feststellung angeht, dass die neuere Homophobie etwas mit Emanzipationsgewinnen zu tun hat – da habe ich nichts zurückzunehmen. Warum werden denn Orte wie das „Pulse“ angegriffen? Warum wurde offenbar ein Attentat auf die Gay Pride Parade in L.A. in letzter Minute verhindert? Warum der Hass auf die Paraden in Osteuropa? Warum Attacken in Israel durch einen Ultraorthodoxen während der Parade dort? Weil das Orte der Sichtbarkeit sind, an denen der Fortschritt der Menschenrechte fühlbar und angreifbar ist. Daraus zu konstruieren, ich wolle die Opfer für die Tat in Haftung nehmen, ist nichts als infam.
    Ich sage ganz klar, dass der Kampf für die Rechte weitergehen muss – nur leider muss man sich dabei auf einen entfesselten Gegner einstellen. Aber: dessen Wut ist gerade ein Zeichen für die vielen Fortschritte, die es gegeben hat.
    Für die Äußerungen von Harald Martenstein übernehme ich keine Verantwortung. Auch in der ZEIT wird gestritten.

  7. Habe jahrelang in der ZEIT anti-homophobe Kommentare gepostet und bin dann oft von den anderen Zeit-„Kommentatoren“ niedergeschrieben worden. Deren Horizont war genau nach dem Motto „Ich habe nichts gegen Schwule aber…“ ausgerichtet. Besonders die Homo-Adoption wurde als „Verbrechen gegen das Kind“ gegeißelt. Meine Entgegnung, dass alle drei Tage ein Kind um’s Leben kommt und hunderttausende gefolterte Kinder jährlich gerettet und ins Heim verbracht werden, alles unter der Ägide der ach so geheiligten Heteros, wurde oft genug von der Redaktion gelöscht oder entfachte einen Shitstorm gegen mich.

    Der Chefredaktor dieses Blattes ist ein früherer TV-Moderator beim bayr. Rundfunk, der wohl nur wegen seiner Fernsehpräsenz an diesen Posten kam. Die Zeit ist eine pseudo-intelektuelle Postille, gelesen meist von älteren Akademikern mit verbohrten Ansichten. Dazu passt das aktuelle Zitat hervorragend. Das Thema Homosexualität wird gerne mit spitzen Fingern angefasst.

    Homophobie kommt bei den „Bildungsbürgern“ häufiger als vermutet vor, nur oft in eine Gemengelage aus ausschweifenden Formulierungen mit vielen Fremdwörtern verpackt. Die Abkürzung „LGBT“ wird in den Artikeln kaum verwendet, und wenn, dann indirekt in eigentlich kompromittierende, aber wiederum wortreich kaschierte Abwertungen. Alles andere ist durch die Lächerlichmachung der „Political Correctness“ durch den Chefredakteur eigentlich schon gesagt.

  8. Ich sage ganz klar, dass der Kampf für die Rechte weitergehen muss – nur leider muss man sich dabei auf einen entfesselten Gegner einstellen. Aber: dessen Wut ist gerade ein Zeichen für die vielen Fortschritte, die es gegeben hat.

    Das würde im Umkehrschluss bedeuten, weniger Fortschritte, weniger Wut!
    Betrachten Sie mal die Lage in Ländern, in denen es in dieser Richtung keine Fortschritte gibt: Russland, Afrika, arabische Länder, etc. und vergleichen Sie, ob dort Homophobie und Alltagsgewalt gegen auch nur vermeintliche Schwule dort auch nur einen Hauch geringer ist!
    Ach, nicht? Im Gegenteil? Und gerade das zeigt die perfide Absurdität des Zeit-Zitates!

  9. Pingback: Jonet Das Journalistennetz. Seit 1994. » Medienlog 23. und 24. Juni 2016

  10. Ich glaube, der Satz von Jörg Lau ist nicht nur mehrdeutig, sondern extrem ungenau. Beinahe könnte man sagen: er ist falsch.
    Homophobie ist eben keine Reaktion auf Emanzipation, sondern wenn, dann ist der Ausbruch von Gewalt einer bestehenden, immer schon latent homophoben Bevölkerungsgruppe gezielt gegen LGBT-Menschen eine Reaktion auf Emanzipationserfolge von LGBT.

    Aber wie so viele andere Alltagsbegriffe ist auch der der „Reaktion“ durch seine Instrumentalisierung in der politischen Debatte vergiftet. Dieses Gift sickert eben auch aus besagtem Statement in der ZEIT – ganz egal, wie gut es gemeint war.

    Das Problematische an dem Wort „Reaktion“ ist, dass es präsupponiert, dass es ein vorausgehendes Ereignis gab, dass in irgendeiner Weise ursächlich, begründend, vorbereitend, nahelegend, etc. für die Reaktion war. Es steht dem Interpretierenden offen anzunehmen, dass in Anbetracht dieses vorangehenden Ereignisses die Reaktion (a) willentlich und verantwortlich ausgeführt wird – oder eben (b) nicht willentlich und verantwortlich, sondern kausal determiniert.

    Der Google-Schnellcheck zeigt, dass im semantischen Feld von „Reaktion“ auch das Reiz-Reaktion-Schema prominent mitschwingt:

    (i) „Die Speichelproduktion ist eine Reaktion auf das Wahrnehmen (z.B. Sehen oder Riechen) der bevorstehenden Mahlzeit (Reiz).“

    (ii) „Lachen ist eine Reaktion auf einen externen Reiz.“

    In dieser Verwendungsbedeutung ist ganz klar: Der „Reaktion“ wird der Status eines initiativen, willentlichen, moralisch bewertbaren Handelns abgesprochen.

    Diese entmoralisierte Bedeutung (b) des Begriffs „Reaktion“ findet sich dann auch im politik- und sozialwissenschaftlichen Kontext:

    (iii) „Allgemein stellt Populismus eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse dar. Er entsteht, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen durch raschen Wandel oder große Verwerfungen Wert- und Orientierungsverluste erleiden.“

    (iv) „Stigmatisierung […] ist eine Reaktion auf nicht erfüllte Normerwartungen.“

    (v) „PEGIDA ist eine Reaktion auf einen bundesdeutschen Linksruck.“

    Interessant an Beispiel (iii) ist auch der Anschluss „Er entsteht“, der impliziert, dass hier unabhängig von handelnden Personen etwas vor sich geht – quasi systemimmanent und/oder ungewollt. Dies genau ist eine mögliche Implikation der entmoralisierten Bedeutung von „Reaktion“: Man *will* ja gar nicht so reagieren, aber man *muss*. Weil z.B.
    – die „Natur“ des Reagierenden einfach ist, so zu reagieren;
    – weil eigentlich nur „das System“ reagiert, nicht der einzelne (Re)Akteur;
    – weil höhere Werte auf dem Spiel stehen.

    Wenn man jetzt diese Lesart von „Reaktion“ forcieren möchte (was Jörg Lau sicher nicht intendiert hat), dann müsste man nur entsprechende Adjektive einsetzen:
    „X ist eine [natürliche / gesamtgesellschaftliche / sittlich gebotene] Reaktion auf Y.“

    Natürlich gibt es auch die andere, die moralische Lesart des Begriffs. Im 19. und 20. Jahrhundert spielte sicher die Konnotation mit „politische Reaktion“, „reaktionär“, die aus dem politischen Kampf der gesellschaftlich-progressiven Kräfte stammt, eine bedeutende Rolle. Diese Konnotation scheint heute kaum noch präsent, doch das wäre zu prüfen.

    Sorry, für diesen länglichen soziolinguistischen Exkurs. Aber ich fand es erstaunlich, wie weit die Interpretationen hier auseinander liegen. Und musste dem auf den Grund gehen. Natürliche Reaktion eben.

  11. @Senta: Falsch: Auch in diesen anderen Ländern gibt es (vergleichsweise) Fortschritte. Heute sind LGBT-Menschen in Russland und Teilen Afrikas eben auch sichtbarer, und dass der Kampf für ihre Rechte von einer Weltöffentlichkeit unterstützt wird, stachelt die Gegner an. Die Hetze in Russland gegen „Gayropa“ zeigt das doch gerade: es soll eine Liberalisierung zurückgekämpft werden, die das System in Einheit mit der Orthodoxen Kirche als „kulturfremd“ diskreditiert.

  12. Danke für diesen Artikel und die fantastische, messerscharfe Analyse!

  13. @Jörg Lau

    Von was für Fortschritten sprichst du?
    Ab 2013 wurden in Russland die Rechte von Homosexuellen massiv beschnitten. Es kam das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“, das Verbot der bis dahin zumindest geduldeten Adoption etcetc.
    Seitdem hat die Gewalt von Privatpersonen gegenüber vermeintlich Schwulen extrem zugenommen.

  14. Ich halte den Satz von Jörg Lau für unglücklich formuliert, habe aber keinen Zweifel an seinen redlichen Absichten. Was ich wirklich gut finde: dass er sich hier der Diskussion stellt. So viel Courage hat längst nicht jeder Journalist. Respekt, Jörg.

  15. Guten Tag,

    ich befürchte auch, dass der Satz deskriptiv-analytisch richtig ist. Auch in D würde ich das für weite teile der Bevölkerung stark vermuten. Das ist schlimm, keine Frage. In einem Diskurs gleich welcher Art, muss man sauber Meinungnen und Forderungen von Beschreibendem trennen.

    Zwar spielt mancher damit auch auf böse Weise, wie Gauland, der den Boateng-Nachbarn-Spruch als bloß vermeintliche Beschreibung hinstellt, aber wohl etwas damit manipulativ erreichen will.

    Ich habe den Artikel in der Zeit heute erst nachgelesen, kenne aber den Autor zu wenig und möchte hier nichts unterstellen. Andererseits verstehe ich Ihre Empörung, wenn der Satz eine homophobe Einstellung des Autors ausdrücken würde. Nur: die sehe ich nicht ohne weiteres.

    Daher darf ich mir kein Urteil erlauben.

    Gruesse Sven Höger

  16. Zitat Jörg Lau:
    „Daraus zu konstruieren, ich wolle die Opfer für die Tat in Haftung nehmen, ist nichts als infam.“

    Ja, das sehe ich nun genauso. Bloß Wörter zusammenklauben, sinnentstellend bzw. umsinnend interpretieren und dann den Autor angreifen … sorry, aber damit tun Sie niemandem einen Gefallen.

    @ mats: Nein, der Satz ist nur ungenau, wenn man eine Vorlage zum Bashing sucht. „Soziolinguistischer Exkurs“ ist etwas gut gemeint für Ihre Ausführungen. Sorry.

    Schaden Sie bitte alle der guten Sache nicht durch blinden Furor. Bitte.

  17. Selbst in scheinbar völlig unpolitischen Zeitschriften wird man mit Heteronormativität konfrontiert. Mir ist das ganz extrem in einer Ausgabe der Kundenzeitung der Deutschen Bahn AG, der „DB mobil“ aufgefallen, wo in Artikeln über Partnersuche, Partnerschaft und Liebe grundsätzlich eine gleichgeschlechtliche Zuneigung gar nicht vorkommt. Und an den Formulierungen merkt man dabei auch jeweils, daß der Verfasser gar nicht erst daran gedacht hat, daß es so etwas überhaupt geben könnte.

    Zusätzlich habe mich da auch geärgert, daß in den Texten zur Spielzeugfigur „Der kleine ICE“ bereits den kleinen Kindern Geschlechterrollen beigebracht werden, wo die Jungen Draufgänger sind und von den Mädchen angehimmelt werden. Ich habe eine Art „Buchbesprechung“ dieser Zeitschrift als Video festgehalten:

    http://www.rehbein-dortmund.de/heteronormativitaet.html

  18. Hä? Was soll daran falsch sein?

    Wer laut und offensiv seine Rechte gegen Ewiggestrige einfordert, der sorgt auch dafür, das sich ein kleiner Prozensatz der Trofnasen radikalisiert und seine Angst (als Ablehnung getarnt) intensiviert. Das hat nichts mit Schuld zu tun, sondern ist so banal normal wie „Wer austeilt, muss auch einstecken“. Und: JA. Das Ende der Skaverei hat auch zum Rasissmus geführt. Der war zwar schon vorher da, aber die Radikalisierung ist eine FOLGE der Befreiung. Und?
    Wer daraus eine Schuldfrage konstruiert, hat das Kausalitätsprinzip einfach nicht verstanden.

  19. „Homophobie ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die enormen Emanzipationsgewinne der Schwulen und Lesben.“

    Ich verstehe ehrlich nicht was an diesem Satz homophob sein soll?
    Er ist logisch das ist schon das einzige was man ihm vorwerfen kann.

    Aktio = Reaktio

    Ich sehe das so:
    Schwule und Lesben bilden eine Bewegung und ebenso bilden auch die Gruppe homophober Menschen eine Bewegung, wenn sie auch nicht in jedem Fall koordiniert agieren so teilen beide Gruppen Gemeinsamkeiten.
    Die Aktionen der einen Gruppe führen zu Gegenreaktionen der anderen Gruppe

    „Die Emanzipation, die Befreiung, der Selbstschutz, die Selbstbestimmung sind Schuld, und nicht das, was das alles angreift und behindert.“

    Sehen wir es doch mal andersherum, dadurch das es immer noch so viele Konservative Menschen gibt, haben sich Emanzipation und Selbstbestimmung von Schwulen und Lesben überhaupt erst so stark herausgebilden können.
    Quasi , wo kein Gegner ist , gibt es auch keinen Widerstand.

    Fazit: Die Aktionen der einen Gruppe, stärken immer auch das Lager der anderen Gruppe und umgekehrt.

    Wer den Eingangssatz als homophob ansieht, ist nichts weiter als ideologisch verbrettert, führt ewig Gestrige Kämpfe und kann einem nur leid tun.

  20. @ Jörg Lau: Ich würde dich niemals als homphob ansehen.

    Aber ich halte die Argumentation für grundfalsch. Eine Bevölkerungsgruppe ist doch umso mehr von Gewalt bedroht, je weniger die Täter staatliche Repressalien befürchten müssen. Und sie sich durch die Gesetzeslage moralisch unterstützt fühlen können.
    Das berüchtigte bandenmäßige „Schwulenklatschen“ hatte seinen Höhepunkt vor dem Fall des §175 da sich die Hobbyschläger relativ sicher sein konnten, keine Anzeige befürchten zu müssen, da sich die Opfer wohl kaum an die Polizei wenden würden.

    Ob es in die Rohingya in Burma betrifft, oder warum werden immer wieder Obdachlose hier in Deutschland erschlagen? Weil sie zu viele Privilegien haben? Hass und Gewalt gegen Obdachlose steigt in dem Maße, wie sie von staatlicher Seite gegängelt werden. Wenn die Rechtslage so ist, dass die Täter sich zum einen relativ sicher vor Strafverfolgung aber auch moralisch unterstützt fühlen können (schließlich verschandeln die unsere schöne Stadt!) nimmt die Gewalt zu.

    > Das Ende der Skaverei hat auch zum Rasissmus geführt.
    > Der war zwar schon vorher da,
    > aber die Radikalisierung ist eine FOLGE der Befreiung.

    Wie bitte? Wann glaubst du, gab es mehr Gewalt gegen Schwarze? Während der Sklaverei oder danach?

  21. Entweder ist der Satz (vermutlich unbewusst) homophob (alá „Irgendwie sind die Schwulen halt selber schuld, wenn sie gehasst werden – warum kämpfen sie auch für ihre Rechte“) oder Jörg Lau kann einfach nicht schreiben und das ausdrücken, was er meinte (womöglich: „Die wahrnehmbar werdende Homophobie ist eine Abwehrreaktion, eine Art letztes Gefecht, weil die Emanzipation am gewinnen ist“). Beide Deutungen sollten ihm zu denken geben.

  22. „Homophobie ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die enormen Emanzipationsgewinne der Schwulen und Lesben.“

    Aus diesem vom Artikel „Fetisch Gewalt“, Jörg Lau, Die Zeit Nr. 26, losgelösten „Hammer“-Satz folgert im Nollendorfblog ad hoc – und wie ich finde sehr vorschnell – der Autor Johannes Kram: „Die Emanzipation, die Befreiung, der Selbstschutz, die Selbstbestimmung sind Schuld, und nicht das, was das alles angreift und behindert. Oder, konsequent zu Ende gedacht: Der Schwarze, der Jude, der Homo.“

    Der sogenannte „Hammersatz“- Satz ist aber keine Schuldzuweisung, sondern er spricht von einer Wechselwirkung im gesellschaftlichen Feld. Setzen sich neue Werte gesellschaftlich durch, so polarisieren sie Gegner und Befürworter. Nicht Schuld sondern eine Dynamik ist in dem Satz angesprochen: actio gleich reactio. Unter der positiven Anerkennung von LTGBI als Menschen- und Minderheitsrechten als Ergebnis eines rationalen, gesellschaftlichen Diskurs auf der einen Seite treten aber auch auf der anderen Seite der Unmut und die irrationalen Ängste über das zum Vorschein tretende Andere, das Fremde schärfer hervor und werden deutlich sichtbar. Homophobie ist die „reaktio“näre Verweigerung eines „aktio“nären Fortschritts. Mit anderen Worten, der kritisierte Satz stellt nicht die Schuldfrage und bewertet nicht, sondern beschreibt das Phänomen einer gesellschaftlichen Wechselwirkung.

    In der dann im Blogbeitrag folgenden, sich übersteigernden Argumentation schwingt der Autor eine ziemlich dicke Keule und macht den kritisierten Satz zu einem „homophoben Satz“ wie er auch in der gaulandschen AFD-Rethorik zu finden sei. Er wettert gegen ein „links-intellektuelles Milieu“ der „Zeit“, das quasi mithilfe eines arglosen „Wir sind die Netten. Das Problem sind die anderen:“ seine Hände in Unschuld wäscht. Und eben durch Sätze, wie den kritisierten, zulässt, dass das Wertespektrum der neuen Rechten im bürgerlichen Lager hoffähig wird.

    – Besonders hat es ihm der Kolumnist der Zeit, Harald Martenstein, angetan. Das sei ein ein schlauer, verkappter Vorkämpfer gegen die Gendergerechtigkeit unter der Tarnkappe des Feuilletons. Meine Erfahrung mit Herrn Martenstein ist: Beim Lesen dieses Feuilleton ertappt man sich selbst in den Sichten dieses bräsigen, älteren Herrn. Er führt vor – die eigene Kurzsichtigkeit, die eigenen versteckten Vorurteile, das Sich-nicht-verändern-Wollen, die Unbeweglichkeit, das „Jetzt-muss-aber-mal-Schluss-sein“, die Fallstricke im Alltag und eben eine gewisse Hilflosigkeit in den wechselnden mainstreams und Moden der Zeit. Erst über sich selbst zu lächeln, erleichtert ungemein den Umgang mit denselben. Ich fühle mich nicht indoktriniert.. –

    Was den Autor Johannes Kram zu seinem „Hammer“-Blogbeitrag bewegt, kann ich nicht wissen. Aber ist der eine Satz erstmal als böser entlarvt, so ist kein Halten mehr: Unter einer „netten, harmlosen“ Maske mutiert „Die Zeit“ zum Agenten populistischer Umtriebe. Hier wird zwar nicht von der „Lügenpresse“ gesprochen, jedoch werden unter umgekehrten Vorzeichen der Verfasser Jörg Lau und die linksliberale Presse zu Mittätern der neuen Rechten gemacht. Es ist dieses besondere, so typisch deutsche Sich-Ereifern, das genau die Ängste in unserem Land weiter kochen lässt. Mit dieser Dynamik vertreibt der Blogautor nicht die Geister, die er selbst in dem von ihm entdeckten „homophoben Satz“ beschwört.

    Ob Johannes Kram die Erfahrung eigener gesellschaftlicher Stigmatisierung oder Diskriminierung antreibt, er nicht aus ihrem Schatten treten kann oder ein Streiter für das Wahre und Gute sein will, kann ich auch nicht wissen. Doch ein losgelöster Satz allein erschließt nicht den Kontext und Wirkung des Artikels. Es braucht schon die ganze Sicht auf den Artikel. Un so lautet die Botschaft am Ende des Artikels: „Was tun gegen den Hass? Erst einmal: endlich die Trauer zulassen, statt sie durch Aktionismus zu verdrängen. Trauer um die Toten im Club »Pulse«. Trauer angesichts von Menschen, die Freudenfeiern und Fußballfeste mit Gewehren und Messern angreifen. Trauer angesichts der Leere im Herzen des Terrors. Und dann, so kitschig es klingen mag: für die Liebe kämpfen – für die der Schwulen und Lesben zueinander. Und nicht zuletzt für die Liebe zum Fußball.“

    Angesichts des Hasses und des Terrors könnte man diese Schlußbotschaft, „… so kitschig es klingen mag: für die Liebe kämpfen“, auch als naiv bezeichnen . Ich finde es jedenfalls mutig von dem Verfasser Jörg Lau auf einer Titelseite, sich diese Sentimentalität einzugestehen. Anstatt – wie alle anderen – es vermeintlich besser zu wissen.

  23. Lieber Herr Lau, das Problem ist, dass der Satz homophob gedeutet werden kann. Vgl.: „Höhere Vergewaltigungszahlen sind nicht zuletzt eine Reaktion auf die knapperen Röcke der Frauen.“ Was würden Sie da von Frauen beschimpft werden, wenn Sie so einen Satz schrieben.
    Sie mögen nicht homophob sein – der Satz ist es aber.

  24. Hier wird meiner Meinung nach ein faktisch richtiger Satz aus dem Zusammenhang gerissen und so lange durch eine krude analytische Mangel gedreht, bis der Autor des Blog-Artikels seine eigene Meinung bestätigt sieht. Das wirkt alles so sehr an den Haaren herbei gezogen.

  25. Ich hole mal etwas weiter aus: Jede Mehrheit besteht aus Minderheiten, denn jeder, der in einem Punkt der Mehrheit angehört, gehört in irgendeinem anderen Punkt einer Minderheit an. An der Art und Weise, wie Mehrheiten mit Minderheiten umgehen, entscheidet sich, ob das Mehrheitsprinzip als legitim akzeptiert wird. Wenn Mehrheiten anfangen, Minderheiten auszugrenzen statt zu integrieren, dann werden auch andere Minderheiten anfangen, am Mehrheitsprinzip und damit an der Demokratie zu zweifeln — am Ende ist das die Mehrheit der Gesellschaft.

    Weil es aber nicht möglich ist, es allen Minderheiten recht zu machen, muss Politik hier zu einem großen Teil symbolisch vorgehen. Anhand weniger ausgewählter Minderheiten wird vorgeführt und zelebriert, dass Minderheiten geachtet und respektiert werden müssen. Deshalb sind die Emanzipationserfolge der Homosexuellen zwar durchaus real, sie sind aber auch symbolisch, weil Politik, Medien, Kulturträger sie benutzen, um den Status Quo der Gesellschaft darüber zu bestimmen. Die Rolle des Homosexuellen wird überhöht, es geht nicht nur um den Freiheitsgrad des Homosexuellen, sondern um den Freiheitsgrad der Gesellschaft.

    In autoritären Gesellschaften ist das anders. Dort muss die herrschende Gruppe nicht Minderheiten umwerben, um sich zu legitimieren. Im Zentrum steht eine fiktive Identität aus gemeinsamer Kultur, Religion, Geschichte. Weil diese Fiktion gemeinsamer Identität nur unscharf sein kann, benötigen autoritäre Gesellschaften (Strömungen, Gruppen) die Abgrenzung gegenüber Gesellschaften, die diese Fiktion nicht teilen. Und wieder bieten sich hier die Homosexuellen an, deren Rolle überhöht wird zum Symbol westlicher Dekadenz.

    Homosexuelle gab es schon immer. Homophobie hat eine lange Tradition. Was neu ist, ist der besondere Umstand, dass Homosexualität überhöht wird und symbolisch im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzung steht. Hat diese symbolische Rolle in unserer offenen Gesellschaft zunächst dazu geführt, dass Homophobie abgebaut und Emanzipation beschleunigt verwirklicht werden konnte, so ist das Gegenteil genauso möglich. In einem Klima zunehmender Sympathie für autoritäre Strömungen wird Homophobie erneut verstärkt und gesellschaftlich legitimiert.

    Es wäre vielleicht tatsächlich an der Zeit, diese symbolische Überhöhung etwas zurückzunehmen. Die Auseinandersetzung mit autoritären Strömungen muss ausgefochten werden, aber Homosexualität ist nicht der einzige Indikator für den Freiheitsgrad und die Offenheit einer Gesellschaft.
    Wenn allerdings Giovanni di Lorenzo von „Übertreibung der Political Correctness“ spricht, dann fürchte ich, geht es ihm nicht darum, Homosexuelle aus der Schußlinie zu bringen, sondern nur darum, von unbequemen Zumutungen verschont zu bleiben. Solange aber die autoritären Strömungen zunehmen, sind diese Zumutungen unverzichtbar.

  26. @ Matthias: Was soll das bedeuten, ein Satz könne homophob gedeutet werden, wenn er in diesem Kontext steht: „Was tun gegen den Hass? Erst einmal: endlich die Trauer zulassen, statt sie durch Aktionismus zu verdrängen. Trauer um die Toten im Club »Pulse«. Trauer angesichts von Menschen, die Freudenfeiern und Fußballfeste mit Gewehren und Messern angreifen. Trauer angesichts der Leere im Herzen des Terrors. Und dann, so kitschig es klingen mag: für die Liebe kämpfen – für die der Schwulen und Lesben zueinander. Und nicht zuletzt für die Liebe zum Fußball.“
    Wer den Text unvoreingenommen liest, kann nicht auf die Idee kommen, ich würde die Opfer beschuldigen, wie Sie es für möglich halten. Ich habe übrigens die Position, die mir hier immerhin als möglich unterstellt wird, NIRGENDS in den Kommentaren zu Orlando gefunden („selber schuld“, zurück ins closet). In den USA gab es im Gegenteil eine Reihe von Coming out. Und abgesehen von Trumps durchsichtigen Vereinnahmungsversuchen eine große Solidarität. Und das ist ein Riesenfortschritt. Es ist die einzig mögliche Konsequenz: mehr Selbstbewusstsein, mehr selbstverständliche Sichtbarkeit, auch wenn die Verwundbarkeit schmerzhaft klar geworden ist. Der Kampf, von dem ich am Ende dieses viel zu kurzen Kommentars rede, besteht darin, dass die Mehrheit noch entschiedener für das Recht die Minderheit eintritt. „Den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann“, um Adorno zu zitieren.

  27. Nichts ist im gesellschaftlichen Diskurs schlimmer als ein gewolltes Missverständnis, mit dem der Gegner sein Vorurteil durch gezielte Fehlinterpretation „beweisen“ kann. Was, lieber Johannes, ist Dein Beweggrund, diese völlig verfehlte, kontraproduktive Diskussion anzuzetteln? Aus dem Zusammenhang reißen und falsch auslegen lässt sich fast jeder Satz. Ergebnis: Schwule streiten untereinander statt wider ihre Gegner.

  28. Wenn ich davon ausgehe, dass Druck Gegendruck erzeugt und je sichtbarer wir im Alltag werden, je mehr wir unsere Stimme im Alltag erheben, also unser Gesicht zeigen, und das nicht nur an der Pride, desto offensichtlicher zeigt auch die alltägliche, von subtil bis klar offensichtliche Homophobie ihr Gesicht. Ohne die Debatten wie z. Bsp, „Ehe für Alle“ hätten wir nie von Angela Merkel’s Bauchgefühl erfahren, das ihr sagt, nein nein … dulden ok, muss ja, sind auch Menschen, ABER mehr nicht. Das ist homophob! Unsere Präsenz fordert sie heraus, Stellung zu beziehen. Was schon immer da war, wird jetzt sichtbar, erlebbar. Und das Signal, welches von Regierungsvertreter*innen und organisierten Glaubensgemeinschaft so in die Gesellschaft hinausgesendet wird, ist unmissverständlich und klar: Sie stärken, legitimieren, wenn auch indirekt, die Homophobie.

    Insofern sage ich: Der Satz hat was. Allerdings hat es nichts mit unseren Emanzipationsgewinnen zu tun. Es hat schlicht damit zu tun, dass wir immer sichtbarer werden im Alltag, mitdiskutieren, wagen laut zu fordern und so die internalisierte, antrainierte, konditionierte, vor sich hin gärende Homophobie ans Tageslicht bringen. Vom Kanzleramt bis hin zum Stammtisch.

  29. „Entweder ist der Satz (vermutlich unbewusst) homophob (alá „Irgendwie sind die Schwulen halt selber schuld, wenn sie gehasst werden – warum kämpfen sie auch für ihre Rechte“) oder Jörg Lau kann einfach nicht schreiben und das ausdrücken, was er meinte (womöglich: „Die wahrnehmbar werdende Homophobie ist eine Abwehrreaktion, eine Art letztes Gefecht, weil die Emanzipation am gewinnen ist“).“

    Selbst als ich den Satz hier zum ersten Mal – aus dem Kontext des Artikels gerissen- gelesen habe, war für mich klar, dass ich ihn rein als die Ist-Situation beschreibend verstehen kann. Er enthält per se keine wertende Aussage, die Wertung wird durch den Autor des Artikels hier hineininterpretiert und grundsätzlich wäre das auch möglich, wenn der weitere Inhalt des originalen Artikels diese Interpretation möglich machen würde. Tut er aber nicht, im Gegenteil, er macht die hier getroffenen Schlussfolgerungen unwahrscheinlicher und meiner Meinung nach sogar perfide. Ich frage mich wirklich, warum der Autor den Rest des Artikels quasi ignoriert und sich nur an diesem Satz aufhängt.

  30. Ein Teil der Leserschaft der Zeit ist – so man denn die Leute, die Kommentare zu den Artikeln abgeben, für repräsentativ hält – tatsächlich alles andere als liberal und weltoffen. Es äußern sich wie in anderen Medien auch sehr, sehr viele AFD-Sympathisanten, Putin-Freunde und andere reaktionäre Intolerante. Und Herr Martensteins Kolumnen kann man wirklich kontrovers diskutieren.
    Aber sorry: die Aufregung um den Satz von Herrn Lau halte ich für komplett überzogen und absolut kontraproduktiv. Er ist ganz einfach wahr. Natürlich wären homophobe Menschen zufriedener und ruhiger, wenn sich homosexuelle Menschen in der Öffentlichkeit erst gar nicht zeigen würden. Völlig zufrieden und ruhig wären sie vermutlich, wenn sie gar nicht wüssten, dass es Homosexuelle überhaupt gibt. Noch wahrscheinlicher wäre aber, sie würden sich einfach andere Opfer für ihren Hass suchen. Dann wären Sie nicht homophob sondern chauvinistisch, xenophob oder antisemitisch. Wenn sie das nicht jetzt schon alles on top gleichzeitig sind. Der Hass ist immer da und am leichtesten lässt er sich an Minderheiten ablassen, weil die Mehrheit ist zu stark. Jede pure Anwesenheit von Minderheiten kanalisiert und zentriert den Hass. Wir sollten den Hass und möglichst seine Ursachen bekämpfen und nicht die Menschen, die zu Recht darauf hinweisen, dass eine größeres Selbstbewusstsein von Minderheiten, automatisch den Hass auf sie lenkt. Und falls jemand sich am Begriff „Minderheit“ stört: Minderheit ist nicht wertend, sondern mathematisch beschreibend. Vielleicht gibt es das Thema irgendwann nicht mehr und wir sind alle nur noch Menschen, aber solange sich Menschen noch selbst als hetero-, homo-, bi- oder asexuel (oder -absolut wertneutral- als irgendetwas etwas anderes) bezeichnen, gibt es Minderheiten und eine Mehrheit.

  31. Hmmm – bei allem Verständnis für deinen Zorn, lieber Johannes: aus meiner (Hetero-)Sicht steckt in dem Satz schon ein Körnchen Wahrheit, aber ich würde ihn nicht per se als homophob einschätzen.
    Soll natürlich nicht heißen, dass jede Minderheit für die Diskriminierung, die sie erfährt, selbst verantwortlich ist. Aber es gibt eine Art der schwulen Außendarstellung, die schon verstört/nervt/abstößt (zumindest einige älter werdende Säcke wie mich): Beispiel für das, was ich meine: einfach mal ‚gay pride‘ googeln und sich die Ergebnisbilder ansehen. Wie kommen die Leute auf den Bildern rüber? Für mich: überdreht, schrill, tuntig, über-sexualisiert, ihr Schwul-Sein fast schon aggressiv nach außen tragend. Mir ist klar, dass das nur ein Aspekt des schwulen Lebens ist, aber es ist halt recht prägend.
    Aggressiv gezeigte und gelebte Sexualität in der Öffentlichkeit ist zwar das gute Recht eines jeden (zum Glück!), aber erzeugt halt auch Abwehrreaktionen bei biederen/zurückhaltenderen Zeitgenossen – Motto ‚Muß denn *das* jetzt unbedingt sein?‘
    Ich behaupte: es regen sich viel weniger Leute über einen Westerwelle oder Wowereit auf als über einen Dirk Bach. Aber das ist nicht automatisch Homophobie. Sondern das Genervtsein von einem Zerrbild, dass „Ihr“ auch fleißig selbst mit befeuert.

  32. @Tim:
    Soso, ein Hetero, der „einfach nur mal gay pride“ googelt.(:
    Aber mal Spass bei Seite: In jeder normalen Dorf-Disse, in den meisten Filmen, diversen
    Sportarten, etc – überall tragen die Leute doch genauso selbstverständlich ihr Hetero-sein
    nach außen, teilweise doch genauso „sexualisiert“. Und da regst du dich tatsächlich drüber auf wenn du beim „gay-pride“-googlen ein paar Tunten siehst? Come on! Dieses „Fremdschäm“-und „muss das denn wirklich sein“-Gefühl habe ich genauso, wenn ich „Afd-Parteitag“ google da sind mir die die paar exzentrischen Schwulen auf irgendwelchen Paraden eigentlich ziemlich egal. Ich (hetero) rate einfach zu ein wenig mehr Gelassenheit in solchen Dingen, die Schwulen nehmen uns schon nix weg. Und als „verstörend, abstoßend, nervig“ empfinde ich einen nicht unerheblichen Teil meiner Mitmenschen sowieso jeden Tag, da fallen die paar Schwule auch nicht mehr ins Gewicht.(: Und über Westerwelle habe ich mich schon tausend mal aufgeregt,da spielt es nun wirklich überhaupt keine Rolle, welche sexuelle Orientierung er hat (oder ob er tot ist).

  33. Liebe Kommentierer,
    vielen Dank für die engagierte und faire Diskussion. Ich habe meine Replik auf Jörg Laus Erklärungen in einem eigenen Blogbeitrag formuliert.
    http://www.nollendorfblog.de/?p=6813
    Bitte Kommentare auch direkt darunter schreiben. Danke, Johannes – Nollendorfblog

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