NDR-Radio in der Corona-Krise: Mehr Faschismus wagen!

In harten Zeiten trifft es oft die besonders hart, denen es ohnehin schlecht geht. Zum Beispiel Minderheiten, weil für deren Schutz weniger Ressourcen zur Verfügung stehen und das Verständnis der Mehrheitsgesellschaft schwindet, warum dieser Schutz nötig ist. Oder aktuell bildungsfernere Familien, die durch die Schulschließungen besonders betroffen sind. Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung hat am Sonntag in der Talkshow Anne Will dargestellt, wie die Bildungsungleichheit durch die aktuellen Maßnahmen steigt und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Kinder von Eltern ohne höhere Bildung ein Gymnasium besuchen: „Da wissen wir, dass für Kinder aus solchen benachteiligten Schichten vier Wochen, sechs Wochen überhaupt nicht mehr nachzuholen sind.“ Die Auswirkungen seien aber erst in zehn oder zwanzig Jahren zu beobachten.

Allmendinger warnte außerdem vor weiteren dramatischen Folgen der Krise: „Die Frauen werden eine entsetzliche Retraditionalisierung weiter erfahren. Ich glaube nicht, dass man das so einfach wieder aufholen kann und dass wir von daher bestimmt drei Jahrzehnte verlieren. Wir sehen es ja an der Repräsentanz von Frauen in Führungspositionen, die jetzt schon wieder zurückgeht“.

Es gibt aber auch Kräfte, die diese Retraditionalisierung, den Rückfall in alte Abhängigkeiten und Benachteiligungen kaum erwarten können und die Krise dazu nutzen, zum Angriff auf Minderheiten blasen. Bereits vor drei Wochen hatte ich in diesem Blog über entsprechende Tweets aus AfD und „Werte Union“ geschrieben. AfD-Vize Beatrix von Storch etwa hatte getwittert:

„Große Krisen schaffen auch Klarheit: wir brauchen Krankenschwestern und keine Diversity-Berater, Naturwissenschaftler und keine Gendergaga-Experten, #Soforthilfe und kein @FridayForFuture #Coronakrise #COVID19″

Im Nollendorfblog vom 5. April hieß es dazu:

Faschismusaffin ist das nicht nur, weil in einer tödlichen Krise das Beschäftigen mit Gerechtigkeits- und Minderheitenfragen auch in „normalen Zeiten“ als etwas angezählt wird, das diese Krise verschlimmert.Die Logik „Medizin statt Gender“ ist nicht nur entsetzlich dumm. Hinter diesen Tweets verbirgt sich auch ein grundsätzlich problematisches Freiheitsverständnis. Natürlich kann und muss immer über die Priorisierung verschiedener Wissenschaften und somit auch gesellschaftlichen Themen gestritten werden. Aber wer die „Wichtigkeit“ gesellschaftlicher Anliegen nur über deren vermeintlicher Relevanz in Krisenzeiten definiert, greift unsere pluralistische Gesellschaft im Kern an. (…)  Eine zivile Gesellschaft versucht, möglichst alle Menschen schützen und nicht nur die, die nach Ansicht von AfD und Werteunion „wichtig“ sind.

Wie schnell sich das gesellschaftliche Klima verdunkelt, zeigt sich dadurch, dass kaum ein Monat später genau dieses totalitäre Gedankengut aus der AfD-Schmiede vom öffentlich-rechtlichen Sender NDR als ein wertvoller Debattenbeitrag gesehen wird. Der gestrige „Wochenkommentar“ von NDR Info, für den der Radiosender die freie Autorin Cora Stephan verpflichtet hatte, endet mit der Einsicht:

In der Krise wird sichtbar, wen und was wir wirklich brauchen: Eher keine Gendersternchen oder heiße Debatten um Toiletten für ein drittes Geschlecht, keine politisch korrekte Sprachsäuberung oder Kampagnen gegen alte weiße Männer, sondern Handwerker und Landwirte, Postboten und LKW-Fahrer, Verkäuferinnen, Apotheker, Ärzte und Pfleger. Normale Menschen, eben.

Die Autorin des NDR-Kommentars hat hier nicht nur ganz offensichtlich bei Beatrix von Storch geklaut. Sie hat deren Warnung und Verachtung für alles Nonkonforme auch noch auf die Spitze getrieben. Wenn man die ganzen Kampfbegriffe aus diesem Zitat streicht, steht da ziemlich deutlich: Die Krise zeigt, dass wir normale Menschen brauchen. Was aber unausgesprochen in diesem Kontext eben auch heißt: Nicht-normale Menschen werden nicht gebraucht. Und etwas weniger deutlich: Nicht-Normale Menschen sind ein Problem.

Ein NDR-Sender hat kein Problem damit, in seinem Wochenkommentar jemanden zu Wort kommen zu lassen, der eine tödliche Krise dazu nutzt, Menschen in brauchbar und unbrauchbar sowie normal und nicht-normal einzuteilen, und den Unbrauchbaren, Nicht-Normalen zu unterstellen, Teil des Problems dieser Katastrophe zu sein.

Der Sender klärt auf der Website, auf der der „Wochenkommentar“ veröffentlicht wurde, darüber auf, Kommentare könnten und sollten „eine klare Position beziehen. Sie können Zustimmung oder Widerspruch auslösen und auf diese Weise zur Diskussion anregen.“

Ja, man kann, man muss über fast alles diskutieren können. Aber wer mehr Faschismus wagen will, der muss auch damit umgehen können. Es ist etwas anderes, über faschismusaffine Meinungen zu berichten und diese zum Gegenstand einer Diskussion zu machen, als diese zum „Wochenkommentar“ zu küren. Denn auch wenn man sich die Haltung eines solchen Beitrages nicht zu eigen macht dann doch die Annahme, dass diese Haltung zum Spektrum der wichtigen Debatten gehören sollte.

Wer schon den Anfängen nicht wehren möchte, der sollte sich wenigstens nicht zum Teil dieser Anfänge machen. ♦


Aktuell: In der neuen Folge meines QUEERKRAM-Podcasts (präsentiert von queer.de) spreche ich mit den Autorinnen Stephanie Kuhnen und Juliane Löffler über die schwerwiegenden Auswirkungen der Pandemie auf die LGBTI-Community, fragen anlässlich des dramatischen Hilferufs der „Siegessäule“, warum es queerer Journalismus in Deutschland so schwer hat, diskutieren über den Sinn digitaler CSDs und suchen trotz düsterer Prognosen das kreative Potenzial, das in der aktuellen Krise steckt. Natürlich geht es auch um den (Berliner) Dauerstreit zwischen Lesben und Schwulen, und nebenbei erfahren wir noch etwas über Schutzmasken aus einem Kleid von Drag-Ikone Margot Schlönzke, coole Neuköllner Graffitis und das Wohnzimmer von Melissa Etheridge. Hört mal rein …


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