„Mother will never understand why you had to leave
But the answers you seek will never be found at home
The love that you need will never be found at home“
heißt es in dem Song „Small Town Boy“ von Bronski Beat mit Jimmy Sommerville, der ein 1984 ein Welthit wurde.
Die Großstädte dieser Welt sind voll von Small Town Boys and Girls, die ihre Dörfer und Kleinstädte verlassen haben, um dort die Liebe, die Anerkennung, die Freunde, den Sex und auch die Arbeit zu finden, in der sie sie selbst sein konnten. New York, London und Berlin wären nicht diese energetischen Städte, die sie heute sind, wären sie nicht auch von der Energie der Kleinstadt-Schwulen, -Lesben und -Queers geprägt wären, die endlich raus mussten, die es sich und anderen zeigen wollten. Dass großstädtische dieser Städte ist zu einem großen Teil dieser Kleinstadt-Impuls: Sieht mich an. Ich bin, was ich bin.
Bis vor wenigen Jahren galt für einen Großteil der queeren Kids, dass sie dem Land den Rücken kehren mussten. Oder sie mussten sich verstecken, erniedrigen lassen, ja, viele haben sich umgebracht oder sich zumindest mit dem Gedanken gequält, oder dachten Ehen eingehen zu müssen, mit denen sie sich selbst, ihre Partner und Kinder betrogen. Oder – nur nebenbei bemerkt – sie mussten Priester werden. Ja, die katholische Kirche hat nicht trotz, sondern wegen ihrer Schwulen überlebt (mehr dazu hier im Blog), sie war in vielen Gegenden hunderte Jahre konkurrenzloses Modell von Schwulsein auf dem Land.
„The love that you need will never be found at home“, dieser Satz aus dem Lied von 1984 gilt heute so nicht mehr. Und daran ist die Digitalisierung schuld. Gott sei Dank! Dass das so ist, liegt nicht nur daran, dass man dank der digitalen Angebote nun auf dem Land auch als Minderheit Sex, Freunde und Gleichgesinnte finden kann. Es liegt grundsätzlich daran, dass man mit dem, als das, was man ist, nicht mehr alleine ist. Im globalen Village ist niemand alleine, zumindest in dem Sinn, dass man im Gegensatz zu früher nicht nur ahnen, sondern auch wissen kann, dass es Menschen gibt, die ähnlich ticken, wie man selbst.
Und damit ich nicht falsch verstanden werde: Das Internet ersetzt keine wirkliche menschliche Nähe und Wärme. Natürlich ist das Internet auch die Hölle, es hat zur Vereinsamung, zu Polarisierung, Kommerzialisierung, zur Hetzte gegen Minderheiten beigetragen. Mobbing hat durch die Digitalisierung eine ganz andere Dimension bekommen. In manchen Gegenden der Welt führt sie auch dazu, dass LGBTI gebrandmarkt und gejagt werden. Und natürlich besteht nicht nur woanders, sondern auch bei uns immer die Gefahr, dass unsere digitalen queeren Spuren uns in autoritäreren Zeiten zum Verhängnis werden. All das ist mir sehr bewusst und ich möchte es nicht verharmlosen.
Aber ich möchte an dieser Stelle trotzdem einmal feiern, was durch Vernetzung und Digitalisierung alles für die Stärkung von Vielfalt und freier Selbstbestimmung erreicht worden ist.
Wahrscheinlich ist es den meisten Heterosexuellen gar nicht bewusst, wie sehr sie von Geburt an mit den Signalen einer heteronormativen Welt beschallt wurden und werden, wie sehr ihr Spielzeug, ihre Anziehsachen, ihre Gute-Nachtgeschichten, ihre Märchen, ihre Kinderserien, wie sehr fast jeder Werbespot im Fernsehen im Kino eine Selbstverständlichkeit vorgibt, die eben nur eine heterosexuelle Selbstverständlichkeit ist. Und wie umgekehrt für all die, die nicht so sind, die schon als Kinder fühlen, dass sie irgendwie anders sind, all diese Signale auch eine Maßregelung sind, anders sein zu sollen, als man ist. Diese Maßregelungen, dieses permanente „du bist anders, du bist nicht so, wie man sein soll“ hat einen enormen Einfluss auf das Wohlbefinden, ja sogar auf das Überleben von Angehörigen sexueller Minderheiten.
Wir denken, heute in Zeiten der Ehe für alle ist das kein Thema mehr. Doch, das stimmt nicht. Diskriminierung findet heute in breitem Maße statt, sie ist nur alltäglicher, sublimer, netter geworden. Man hat ja nichts gegen Homosexuelle. Aber! Und das wirkt, schüchtert ein, macht krank und mindert die Chancen in Alltag und Beruf.
Aber es wird besser. Die Digitalisierung hat es möglich gemacht, dass niemand mehr alleine in einem Village ist. Vor allem aber, dass man weiß, dass man nicht alleine ist. Durch das Internet sind Kids heute nicht mehr abhängig sind von den Rollenbildern, die ihnen die Bildungssysteme und einige Massenmedien immer noch vorsetzen. Jeder weiß nicht nur, dass es andere gibt, die genau so denken und fühlen (und alleine das ist schon verdammt viel wert!), sondern auch, dass und wie es möglich ist, mit diesen anderen austauschen und verbünden zu können. Die Digitalisierung hat Individuen gestärkt, weil sie sich zu Identitäten zusammenschließen und organisieren können. Noch vor wenigen Jahren gab es etwa in Deutschland kaum Repräsentation und Organisation von trans Menschen und Gruppen. Dass sich das geändert hat, ist auch den digitalen Möglichkeiten zu verdanken.
Durch die großen Streamingdienste sind nun endlich auch vielfältige Minderheiten- und Nischenthemen in großen Film- und Serienproduktionen möglich, die sich nicht für ein Mainstreampublikum verbiegen müssen. Durch die digitale Erreichbarkeit von Minderheiten und Nischen-Zuschauer*innen auf der ganzen Welt bilden diese einen ausreichend großen Markt, der es den Streamingdiensten nicht nur ermöglicht, starke Stoffe etwa für LGBTI zu produzieren, sondern ihnen auch für relativ wenig Geld zugänglich zu machen. Was für ein Glück, dass sich heutige Kids nicht mehr in der öffentlich-rechtlichen Welt der Fernseh-Nonnen und Bergdoktoren und der weitgehend gut gemeinten aber unterm Strich so schrecklich spießigen und sexualfeindlichen hetero-moralisierender Jugendprogramme zurechtfinden müssen. Ja, es wäre gar nicht so sehr übertrieben, den Macher*innen der Netflix-Serie Sex Education einen Friedensnobelpreis zu verleihen dafür, dass junge Leute nicht mehr so sehr im Krieg mit ihrem Körper stehen müssen und damit ja auch perspektivisch gesehen oft genug auch mit dem Rest der Welt. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass so etwas wie Orange Is The New Black oder Pose möglich ist? Kommende Wissenschaftler*innen-Generationen werden hoffentlich mal herausfinden, wie diese Programme weltweit den aufrechten Gang queerer Menschen auch in den abgelegensten Ecken dieses Planeten befördert haben.
Aber die digitale Welt bringt uns LGBTI auch in eine absurde Situation. In meiner Kleinstadt habe ich mein erstes Auto, den alten grünen VW-Golf meiner Mutter, immer ein paar Straßen weiter weg von der Schwulenbar geparkt. Das haben wir damals alle so gemacht. Nicht nur, weil wir nicht wollten, dass unsere Autos dort gesehen wurde. Sondern auch, weil wir dachten, dass die Polizei sich die Kennzeichen vor der Bar aufschreibt, und wir in Rosa Listen geführt würden. Das war zwar Ende der 1980er etwas paranoid, zeigt aber, wie sehr der Schutz unserer Identität auch der Schutz unserer Daten und unserer – heute würde man sagen – „Bewegungsprofile“ war.
Heute scheint es genau umgekehrt zu sein. Wir füttern unsere Daten in globale, mächtige Systeme und fühlen uns dadurch gestärkt, weil diese Systeme uns stärken.
Daten kennt keine Moral. Das ist auf der einen Seite beunruhigend. Aber aus emanzipatorischer Sicht erst einmal eine Riesenchance. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat 2017 entschieden, dass das geltende Personenstandsrecht ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie das im Grundgesetz geregelte Diskriminierungsverbot darstellt. Es scheint, dass die Bevölkerung – im Großen und Ganzen – ziemlich okay mit der „dritten Option“ ist. Wäre das auch so, wenn es auf Facebook nicht schon seit Jahren 60 verschiedene Möglichkeiten für die Beschreibung des eigenen Geschlechts geben würde? Wäre der viel entspanntere Umgang mit dem Thema sexuelle Identität heute auch möglich, wenn die Technik, mit der wir jeden Tag umgehen, uns nicht gelehrt hätte, dass Identität etwas ist, das wir einfach anklicken, also auswählen können, also etwas ist, wozu wir uns entscheiden können? Dass wir verschiedene Profile, Identitäten haben können, dass wir in verschiedenen Kontexten verschiedene Persönlichkeiten sein können? Dass wir stark sein können, indem wir unser Gesicht zeigen und auch wir stark wir sein können, wenn wir anonym sind?
Ja, ich weiß, die Anonymität im Internet macht dieses auch zu einer riesigen Kloake und ich möchte nicht verharmlosen, welche Gewalt durch das anonyme Hassen und Aufwiegeln geschieht. Und doch ist Anonymität auch ein wichtiger Schutz für die, die Schutz brauchen. Ich bin mir sicher, dass wir die wichtige Sichtbarkeit von trans Menschen und trans Themen, die es nun endlich gibt, nicht hätten, wenn trans Menschen nicht auch durch die Möglichkeit gehabt hätten, im Internet ihre Identität auch anonym suchen, finden, reflektieren und stärken zu können.
Ich bin nicht naiv. Auch wenn Daten keine Moral haben, so können doch Algorithmen sich gegen alles und jeden wenden. Und Digitalisierung ist nicht nur Freiheit, sondern auch Kontrolle, Zwang, Ausbeutung. Tech-basierte Unternehmen sind natürlich nicht per se bessere Unternehmen. Doch weil auch hier – besonders in Deutschland – so oft die Kehrseite beschworen wird, möchte ich auch hier den Blick auf den Benefit für Minderheiten, für Vielfalt richten:
Nicht nur aus Sicht der MitarbeiterInnen und Mitarbeiter, weil es nun möglich ist, Individuen und ihre Leistungen besser von diskriminierenden Strukturen zu trennen. Sondern auch auf Kundenseite. So schlimm der Zwang bestimmter Dienstleister auch ist, sich der permanenten Bewertung von Kunden zu stellen, so sehr hat dieses System auch das selbstbewusste Agieren von Minderheiten befördert.
Ein Uber-Fahrer kann sich heute nicht erlauben, Dragqueens anzufeinden oder vor die Tür zu setzen, ohne mit Konsequnzen rechnen zu müssen. Ich bin mir sicher: Bis vor wenigen Jahren haben sich auch lesbische und schwule Pärchen im Taxi weitaus weniger getraut, Hand in Hand zu sitzen, so wie es Heteros selbstverständlich tun, ohne darüber nachzudenken. Ich bin mir sicher, dass homosexuelle Paare dank digitaler Buchungs- und Bewertungsportale heute mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein in Hotels einchecken. Was so banal klingen mag, ist es nicht, denn hier geht es darum, dass krankmachender und lähmender Stress wirksam abgebaut wurde. Es ist ein Paradigmenwechsel eingetreten: Nicht sie, sondern die Diskriminierer in Hotels, Restaurants, Uber- oder Taxi-Autos oder anderer Dienstleistungen sind es, die sich im Fall einer Diskriminierung zu rechtfertigen haben. Die Macht, die Kunden heute haben, ist oft gespenstisch, aber für Minderheiten führt immer mehr zu gerechter und gesünderer Teilhabe am öffentlichen Leben.
Und auch deshalb, auch wenn es provokant klingt:
Lang lebe der Shitstorm!
Nein, ich meine nicht den unreflektierten, wilden Massenreflex auf eine irgendeine zufällige Nichtigkeit. Doch vieles, was wir als Shitstorm bezeichnen ist der berechtigte Protest vieler Individuen. Oft gegen Sexismus, Rassismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ein Shitstorm ist – sofern er nicht technisch und medial manipuliert und verstärkt wird – eben keine gesteuerte Kampagne, sondern das genaue Gegenteil. Nur weil viele Individuen nun eine gemeinsame Stimme haben, ist deren gebündelter Protest noch lange nicht unverhältnismäßig. Unverhältnismäßig war bisher die Macht, mit der große Institutionen und Marken gesellschaftliche Normen zementieren konnten. Unverhältnismäßig war auch die Macht von Diskriminierern die es früher gewohnt waren, unbehelligt nach unten treten zu können und jetzt nicht damit klarkommen können, dass zurückgetreten wird. (Beispiele hier im Blog: Siehe Dieter Nuhr, AKK und Friedrich Merz).
Unverhältnismäßig war die Ohnmacht von Minderheiten, die sich mit dieser Macht abfinden müssen. Dank die digitalen Möglichkeiten hat sich das geändert.
Nein, durch die Digitalisierung wird die Welt nicht automatisch eine diversere, bessere. Dazu bedarf es natürlich Regeln, Strukturen und vor allem Menschen, die, die es gut meinen und gut machen. Nichts passiert von selbst, alles muss erkämpft und auch verteidigt werden. Und doch dürfen wir nicht unterschätzen, welche befreiende Kraft von dem ausgeht, was heute Dank der digitalen Revolution möglich ist. Und was es bedeutet, dass wir schon heute sagen können:
The answers you seek can even be found at home!
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