Zum Rückblick auf das politische Jahr 2019 möchte ich einige Fragen aufwerfen, die auf den ersten Blick verwegen erscheinen: Erstens: Ist es eigentlich ein Zufall, dass die beiden bedeutendsten Bundespolitiker des Jahres schwul sind? Ja klar ist es das. Aber hat, zweitens, die Tatsache, dass Kevin Kühnert und Jens Spahn schwul sind umgekehrt auch nichts damit zu tun, dass diese die bedeutendsten Politiker des Jahres waren? Das sehe ich nicht so. Es spricht vieles dafür, dass ihr politisches Tun an entscheidenden Stellen nicht losgelöst von ihrer schwulen, homosexuellen und wie auch immer gearteten queeren Identität zu verstehen ist.
Was dann auch bedeutet: Es spricht vieles dafür, dass wichtige innenpolitische Entwicklungen des Jahres 2019 eben auch durch schwule* Perspektiven vorangetrieben wurden.
Das Interessante hierbei: Während 2017 durch Eheöffnung und 175er-Entschädingung als queerpolitisch historisches Jahr zu verstehen ist, in dem durch Entscheidungen der Mehrheitsgesellschaft vor allem das Leben homosexueller Menschen verändert worden ist, scheint es 2019 umgekehrt zu sein. Schwule / homosexuelle / queere Politiker schrauben mit schwulem / homosexuellem / queeren Blick an wichtigen politischen Koordinaten der Gesamtgesellschaft und ermöglichen so für die beiden großen politischen Lager einen Fortschritt, eine Überwindung alter Dogmen, die mit rein heterosexuellem Blick nicht gelungen war.
Doch wie komme ich bei den „bedeutendsten“ Politikern ausgerechnet auf Spahn und Kühnert? Schon klar: Würden wir hier generell nicht über Bundespolitiker sprechen, sondern über die bedeutendste deutsche Politikerin, den bedeutendsten Politiker diesen Jahres, wäre das natürlich Ursula von der Leyen. Und natürlich sind die Grünen-ChefInnen Annalena Baerbock und Robert Habeck die leuchtenden Stars am PolitikerInnen-Himmel. Aber erstens waren sie das auch schon im letzten Jahr. Und zweitens sind die beiden immer noch vor allem ein politisches Versprechen. Kühnert und Spahn aber sind regierungspolitische Realität. Als zentrale Figuren der Regierungsparteien mussten sie sich aus den Untiefen und Verklemmungen ihrer verkrusteten Parteien, vor allem aber der von der Bevölkerung verhassten Koalition befreien. Und so ist hier „bedeutend“ nicht an Rang und formaler Macht, sondern als Summe dessen zu verstehen, was Politiker sowohl inhaltlich als auch strategisch innerhalb des einen Jahres bewegt haben: Bedeutend also als Gestalter, im Sinne von Machtgewinn, im Sinne der Position, in die sich die beiden für Ihr eigenes Weiterkommen und dem ihrer Parteien und politischen Lager gebracht haben.
Kevin Kühnert gilt am Ende des Jahres 2019 als der neue starke Mann der SPD. Und während in der CDU sich die Antipoden Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz um Kopf und Kragen taktiert haben, ist Jens Spahn als ernstzunehmender Hoffnungsträger der Partei nicht einfach nur übriggeblieben. Spahns Stärke liegt nicht nur in der Schwäche, der lächerlichen und vorhersehbaren Billigkeit der Selbstinszenierungen von AKK und Merz. Er hat seine Niederlage beim Kampf um den CDU-Vorsitz in einen Vorteil verwandelt: Der einstige Polarisierer gilt in der Partei nun als lagerübergreifender Integrierer und in der Bundesregierung parteiübergreifend als Macher, als derjenige, dem fast alles zu gelingen scheint. Und das im Minenfeld-Ressort Gesundheit, das traditionell zwischen allen Stühlen und Erwartungen nur negative PR verspricht.
Reden wir bei der Betrachtung der politischen Rollen von Kühnert und Spahn in 2019 zunächst nicht über Inhalte, sondern über Politik als Handwerk, über das Geschick, die Chuzpe, das Gespür, das es dafür braucht, um nicht nur Positionen und Themen zu „besetzen“, sondern tatsächlich ehrgeizige politische Ziele in konkrete Ergebnisse umzusetzen. Hier haben beide wirkliche Wunder vollbracht: Kühnert, der in seiner Partei einen Richtungs- und Machtwechsel organisierte, der allen Erwartungen und politischen Gesetzmäßigkeiten widersprach. Spahn, der sich ausgerechnet das Verbot der „Homoheilung“ vorgenommen hatte und somit die Lösung einer politisch und juristisch eigentlich unlösbare Aufgabe versprach, was ihn aller Erwartung nach als Maulhelden hätte enden lassen müssen.
Wie sehr der Triumph um das Durchbringen des Gesetzesentwurfs zum Verbot von Konversionstherapie ein Sieg seines politischen Könnens ist, zeigt sich alleine dadurch, dass es auch in liberalen Ländern international nur wenige solcher Gesetze gibt und sich hierzulande das SPD-geführte Justizministerium nicht in der Lage sah, hier einen gangbaren Weg anzubieten.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Spahn bleibt ein Konservativer mit teilweise schlimmen Positionen und Handlungen wie etwa das unwürdige und postfaktische Gescharre um den Paragrafen 2019a, der „Werbung“ für Schwangerschaftsabbrüche verbietet. Aber Spahn hat seine Position eben auch dazu genutzt, gesellschaftlich wirklich relevante Konflikte zu beackern, etwa in dem er eine würdige und konstruktive Debatte um das ethisch schwierige Thema Organspende initiierte und mit seinem Entwurf zur Widerspruchslösung eine weitgehend akzeptierte Lösung zu präsentieren. Er nutzt das vermeintlich enge Fach der Gesundheitspolitik dazu, politisch Grundsätzliches anzugehen und alte Konfliktlinien aufzulösen.
So bedeutet sein Vorstoß in Sachen Konversionstherapie viel mehr als der Schutz queerer Menschen vor Angriffen durch vermeintliche Heiler. Gerade für Deutschland, dem Land der obsessiven Homosexuellenverfolgung, die noch in die Zeit hineinreicht, als Spahns heutige Kabinettchefin Angela Merkel schon Teil einer Bundesregierung war, ist dieser Schritt ein Wendepunkt: Wenn man das halbherzige Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001 weglässt und die „dritten Option“ von 2018 (die allerdings keine politische sondern verfassungsrechtliche Vorgabe war), ist Deutschland erstmals bei einer Frage der Würde von LGBTI nicht internationaler Nachzügler, sondern sogar Vorreiter.
Erstmals seit langer Zeit traut sich Deutschland in Sachen Diskriminierungsschutz etwas, wagt sich auf unbekanntes Terrain und vollzieht unter nicht nur trotzig und halb widerwillig politisch Überfälliges, was in vergleichbaren Ländern schon lange Standard ist.
Vor allem aber für die Unionsparteien, für die die Abwertung Homosexueller einer der traditionell wichtigsten „Markenkerne“ bedeutet (zumal sich Spahns neue Parteichefin auch ausgerechnet mit queerem Minderheitenbashing zu profilieren versucht) ist Spahns Gesetz eine Sensation. Denn so sehr dort die Toleranz gegen LGBTI behauptet wird, so sehr war es bisher üblich, katholischen und reaktionären AnhängerInnen in ihrem Glauben zu bestärken, dass Homosexualität dann doch irgendwie nicht richtig ist, doch irgendwie weder ethisch noch gesellschaftlich gewollt sein kann. (Hier alles zur traditionsreichen Homophobie der Union im Nollendorfblog.) Umso erstaunlicher ist es, dass Spahn hier im Interview mit Markus Kowalski in der taz in der Begründung seines Vorstoßes keinen Millimeter herum eiert:
Homosexualität ist keine Krankheit und deswegen ist sie auch nicht therapiebedürftig. Deswegen bin ich für ein Verbot der Konversionstherapie. Ich halte nichts von diesen Therapien, schon wegen meines eigenen Schwulseins. Ich sage immer, der liebe Gott wird sich was dabei gedacht haben. Jetzt geht es um die praktische Umsetzung.
Den lieben Gott hier ins Feld zu führen, ist ein beliebtes Argumentationsmuster queerer AktivistInnen, wenn es um die Diskussion mit religiös begründeter Homophobie geht. Dass das hier der Gesundheitsminister einer Partei macht, die das christliche Menschenbild zur Maxime erklärt und deren treuste Wählerklientel sich klerikal und konservativ verortet, ist zwar rhetorisch geschickt, aber dennoch mutig: Es widerspricht genau dem, was CDU Politiker bis vor Kurzem von dem behauptet haben, was Gott sich angeblich gendermäßig „so gedacht“ hat. Dass Homosexualität nicht nur etwas Hinzunehmendes, sondern sogar etwas von Gott gewünschtes ist, ist ein weltanschaulicher Bruch, wie ihn die Union lange nicht mehr erlebt hat. Denn in der Konsequenz geht diese Festlegung weit darüber hinaus, queere Menschen von Heilung verschonen zu wollen: Wenn Gott sich queere Menschen ausgedacht hat, dann sind eben queerer Sex, queere Beziehungen nicht etwas „Defizitäres“, dann ist auch etwa das, was die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer über gleichgeschlechtliche Ehen erzählt auch noch viel größerer, böswilliger und/oder hanebüchener / dummer Unsinn als es des bereits vorher sowieso schon war. (Hier die „gesammelten Werke“ zur Homophobie der AKK im Nollendorfblog, hier meine erste AKK-Kritik:“Ehe für alle: Der völkische Wahn der Annegret Kramp-Karrenbauer“)
Was Spahn sagt, ist Self Fulfilling Prophecy at its best:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in der Unionsfraktion im Bundestag einen Anhänger von Konversionstherapien gibt.
Das ist politische Kunst: Gerade weil Spahn hier wohl nicht die Wahrheit sagt, wird dieser Satz durch sein Ausgesprochensein wohl zur Wahrheit werden.
Dies ist auch deshalb nicht zu unterschätzen, weil Spahn mit seiner Volte nicht nur die zahlreichen innerparteilichen klammheimlichen Homohasser ausgebremst. Auch die katholische Kirche, die zwar in Deutschland offiziell nicht für Konversationstherapien eintritt, deren Personal aber selbstverständlich weiterhin in weiten Teilen suggeriert, dass Homosexualität nur ein „Weg“, ein „Lifestyle“ ist, und somit auch überwunden/ geheilt werden kann und unter bestimmten Umständen auch sollte, steht nun vor einer Brandmauer. Dieses bisher oft als harmlos betrachtete Geschwätz ist nun entlarvt als das, was es ist: Unverantwortlicher, unwissenschaftlicher Angriff auf die Würde queerer Menschen. Nimmt man Spahn und seine Begründung des Verbotes der Konversationstherapien als staatlichen Willen ernst, ist in Deutschland nicht weniger als eine neue Norm verankert worden. Der Staat schafft seltene Klarheit, es gilt nun ganz offiziell die Rosa-von-Praunheimische-Formel, und zwar in beiden Teilen: Nicht nur ist der Homosexuelle nicht pervers. Pervers sind all die, die queere Menschen in irgendeine Situation bringen wollen, in dem sie sich für irgendetwas ihrer Queerheit rechtfertigen und erklären sollen.
Dass ausgerechnet die Union so etwas auf die Reihe bekommt und das noch aus freien Stücken und das noch in einer zelebrierten Selbstverständlichkeit ohne Streit, zerschneidet einen lange festgezurrten Knoten, löst ein bisheriges Dilemma, in dem in den C-Parteien traditionelle „Werte“ und individuelle Freiheiten unversöhnlich gegenüberstanden. Damit wir uns auch hier nicht missverstehen: Natürlich muss sich die Union noch sehr bewegen, natürlich zeigt sich etwa beim Transsexuellengesetz, wie abwertend bevormundend noch gedacht, zeigt der immer noch nicht reformierte Artikel 3 des Grundgesetzes, wie schwer es CDU und CSU fällt, Diskriminierung wirklich zu verstehen, wirklichen Schutz zu garantieren.
Doch hat Spahn mit seinen klaren Worten und Taten zur „Homoheilung“ seine Partei ein gutes Stück an die gesellschaftlichen Realität herangeschoben. Und das kann der Partei auch in Zukunft dort helfen, wo es nicht um Queeres geht. Spahn hat (und das mit einem explizit schwulen Blick) seiner Partei exemplarisch gezeigt, wie es gelingen kann, Ballast hinter sich zu lassen und somit neue strategische Optionen zu erlangen.
Und damit zu Kühnert. Denn was bisher weitgehend in der Betrachtung des Jahres 2019 vor lauter lauter Merz-AKK-Esken-NoWaBo-Drama untergegangen ist: Nicht nur Spahn, sondern auch Kühnert hat seiner Partei (und darüber hinaus dem gesamten linken Lager) einen Weg aufgezeichnet, wie ein solches Dilemma aufgelöst werden kann.
Doch zunächst zur Ausgangssituation: Die bisherige Maxime fast aller führenden Sozialdemokraten der letzten Jahre lautete, dass SPD-Politik vor allem wahlweise dem „kleinen Mann“, dem „Industriearbeiter“ oder der hart arbeitenden Krankenschwester zu dienen habe. Diese Fixierung führte zu einem künstlich konstruierten Gegensatz, der gegen die böse „Identitätspolitik“ polemisierte und dieser die Schuld dafür gab, dass die Sozialdemokraten die soziale Frage aus den Augen verloren hätten. Nach dieser Lesart, wurde sich zu viel um Minderheiten-, Umwelt- oder Geschlechterfragen gekümmert und zu wenig um Gerechtigkeit. Sigmar Gabriel spitzte diesen vermeintlichen Gegensatz bereits vor zwei Jahren zu, und formulierte, was offensichtlich viele in der Partei dachten, und machte dabei sogar die Zustimmung, bzw. das Verhalten seiner Partei zur Ehe für Alle indirekt mitverantwortlich für den schlechten Zustand der SPD. (Nollendorfblog vom 16. Dezember 2017: Sigmar Gabriels Homo-Bashing: Wer gleiche Rechte gegen Gerechtigkeit ausspielt, kann kein Sozialdemokrat sein)
Und ausgerechnet kurz vor dem diesjährigen Dezember-Parteitag, auf dem die neue Führung und Richtung der Partei bestimmt werden sollte, verschärfte der Ex-Parteivorsitzende seine Befunde noch weiter zu einer fast schon montrösen Warnung.
Queer.de skizzierte:
Laut „Hamburger Abendblatt“ (Paywall-Artikel) kritisierte Gabriel in seiner Rede, dass ökonomische und soziale Fragen bei den Sozialdemokraten nur noch eine untergeordnete Rolle spielen würden. „Stattdessen wurde Politik für Minderheiten gemacht. In der Hoffnung, die Summe der Minderheiten ergibt eine Mehrheit.“ Durch das „Überhandnehmen von Themen wie Schwulenrechte, Gleichstellungsrechte, Migration“ sei die klassische Bindewirkung von Sozialdemokratie an diesen Teil der Gesellschaft verlorengegangen: „Die Arbeiterpartei Deutschlands ist derzeit die AfD.“
Natürlich wurde der Ex-SPD-Chef aus seiner Partei heftig dafür kritisiert, der AfD hier nach dem Mund zu reden. Was aber niemand so richtig schaffte: Ihm inhaltlich zu widersprechen, ihm also nicht nur nachzuweisen, dass er hier zu dick auffährt, sondern Gabriels windige Analyse, die immerhin an einer sozialdemokratischen Lebenslüge rührt, vom Grund her systematisch auseinanderzunehmen.
Oder anders: Niemand hatte auf dem Parteitag das intellektuelle Niveau, den intellektuellen Blödsinn des ehemaligen Parteichefs als diesen intellektuellen Blödsinn, der er ist, bloßzustellen.
Doch dann kam Kevin Kühnert. Seine Rede auf dem Parteitag, die seine Bewerbung für das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden war, ist für mich die politische Rede des Jahres 2019. Sie ist aus so vielen unterschiedlichen Gründen beachtlich, dass sie wohl deshalb in ihrer Gänze nicht ausreichend beachtet wurde.
Das was Kühnert da in der SPD inhaltlich proklamiert, geht weit über das hinaus, was allgemein mit einem Linksruck der Partei beschreiben wird. Kühnerts Erklärung war vor allem ein für sozialdemokratische Verhältnisse geradezu revolutionär neue Erklärung linker Politik. Eine Erklärung, die an den Kern der gesellschaftlichen Konfliktzonen rührt.
Kevin Kühnert:
… Individualisierung findet in dieser Gesellschaft statt. Und ich bin zutiefst genervt davon, dass es zwei sehr radikale Ansichten von Individualität gibt, die ich nicht teile und die unsere Partei nicht teilen sollte, da ist auf der einen Seite, das hat man im letzten Jahr sehen können, als sich die sogenannte Sammlungsbewegung „Aufstehen“ begründet hat. Es gab Gründe, warum ich und andere damals nicht auf dem Podium gesessen haben: Weil ich nicht davon überzeugt bin, sondern im Gegenteil zufiefst ablehne zu sagen: „Die Zeit von Individualisierung und mehr Freiheitsrechten die muss jetzt mal vorbei sein zugunsten von mehr kämpfen für das Soziale“, Nein, das ist nicht die richtige Analyse: Keine Ehe für alle, keine Geschlechterquote in DAX-Vorständen oder ähnlichem sorgt dafür, dass wir nicht mehr für soziale Gerechtigkeit kämpfen können. Hören wir auf, die Falschen gegeneinander auszuspielen! Individualisierung ist kein Widerspruch zu sozial gerechter Politik, liebe Genossinnen und Genossen. Und auf der anderen Seite die Sichtweise der absoluten Individualität, die wir dort gut finden, wo sie die freie Entfaltung der Persönlichkeit betrifft, wo Schwule, Lesben, Intersexuelle und Transgender sie selbst sein können in unserer Gesellschaft. Offen über die Straße gehen können ohne Angst zu haben, angegriffen und angefeindet zu werden, wo tatsächlich gleiche Lebenschancen für alle bestehen. Aber wir setzen dem eine Grenze, wo es in den Bereich der materialistischen Grundlagen, des Ökonomischen geht. Wir glauben nämlich nicht, dass ein Individualismus, der bis tief hinein in die Strukturen des Zusammenlebens, in den öffentlichen Nahverkehr, in unsere natürlichen Lebensgrundlagen, ins Wohnen und ins Bildungssystem hineinreicht, irgendetwas besser macht. Dieser Markt regelt es nicht, er hat es in der Vergangenheit nicht geregelt und er wird es auch in Zukunft nicht tun und deswegen widersprechen wir mit allem Nachdruck daran, dass wenn nur alle an sich selbst denken, dann ja auch an die ganze Gesellschaft gedacht ist, oder dass, wenn jeder nachhaltig einkauft, auch Klimaschutz und Nachhaltigkeit geschaffen sind. Hier hört unser Verständnis von Individualität auf.
Bang!
Kühnert hat übrigens Gabriel gar nicht persönlich kritisiert. Obwohl natürlich dessen Vorwürfe im Raum standen, und von Kühnert weggewischt wurden, richtete sich seine Ansage explizit gegen die von Sahra Wagenknecht gegründete Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Wagenknecht hatte in wesentlichen Punkten wie Gabriel ein linkes Narrativ formuliert, dass individuelle Rechte wie Luxusprobleme aussehen ließen. (Nollendorfblog vom 27. Juni 2018:“Wie Sahra Wagenknecht Lesben und Schwule für dumm verkaufen will“)
Wie Spahn hilft Kühnert hier seiner Partei aber auch dem gesamten linken Spektrum an entscheidender Stelle aus einer uralt-klebligen Politik-Folklore hinaus. Doch nicht nur die Eindeutigkeiten der politischen Festlegungen sind hier interessant, sondern der eindeutig geäußerte individuelle, und das heißt hier: der schwule, der homosexuelle, der queere Blick.
Denn: So wichtig Politiker wie Ole van Beust und Guido Westerwelle für die „Normalisierung“ der Homosexuellen in der Politik waren, so sehr haben sie sich aber auch ihr Partei- und Wahlvolk mit Homothemen oder gar ihrer eigenen Homosexualität weitgehend in Ruhe gelassen. Auch Barbara Hendricks, in der letzten Legislaturperiode erste offen lesbische Bundesministerin der Republik, nutze ihr Lesbischsein nicht als politisches Argument. Und selbst Wowereit, der wohl erste deutsche Politiker, der nicht nur trotz, sondern auch wegen seiner Homosexualität (bzw. mit seinem selbstbewussten Umgang damit) beliebt und gewählt wurde, hat bei aller Solidarität und unmissverständlichen Positionierungen zu LGBTI-Themen hier doch inhaltlich nie große eigene Akzente gesetzt.
Bisher galt in Deutschland die Regel, dass homosexuelle Politiker dann erfolgreich Politik machen können, wenn sie betonen, wie wenig ihr Homosexuellsein mit ihrer Politik zu tun hat.
Noch im März 2018 hat Kevin Kühnert in einer Talkshow behauptet, dass seine Homosexualität für seine politische Arbeit kein entscheidender Faktor sei.
Ich finde es verständlich, dass homosexuelle Politiker so etwas von sich behaupten. Der Vorwurf der Homo-Lobby, der Klientelpolitik, der Vermischung mit eigenen Interessen ist nah. Ich glaube sogar, dass homosexuelle Politiker von sich selbst glauben, dass ihre Homosexualität für ihre politische Arbeit keine oder eine unwichtige Rolle spielt, ganz einfach, weil sie das glauben wollen. Weil sie glauben, dass es ihre politische Arbeit klein macht.
Dabei ist das Gegenteil der Fall: Es macht sie und seine Arbeit groß. Genau wie es jede Politikerin, jeden Politiker groß macht, wenn sie oder er das eigene Leben, gerade auch die Brüche, die Abweichungen vom Mainstream, die Sicht über die üblichen Ränder hinaus zum Teil ihrer Politik und deren Erklärung macht.
Bisher ging es in Deutschland darum, dass offen Queeres, offen queer Begründetes in der Politik kein Nachteil ist. Jetzt zeigt sich, dass es ein Vorteil sein kann. Nicht weil Queersein oder queere Menschen besser sind, natürlich nicht. Sondern weil – und das gilt natürlich für alle PolitikerInnen - über Identität zu sprechen der Zugang des Verständnisses des Politischen ist: Warum mache ich das? Warum ist mir das wichtig? Was will ich und was kann ich mit meinem individuellen Blick auf die Welt und die Gesellschaft dazu beitragen, dass es besser wird mit Welt und Gesellschaft?
Und das heißt natürlich auch: Wo und wie kann der queere Blick auf Gesellschaft zu einer besseren Betrachtung der Gesamtgesellschaft auf Gesellschaft führen? Bisher galt es, sich nicht zu verstecken. Jetzt, so scheint es, kann, soll es darum gehen, sich zu zeigen.
Jens Spahn und Kevin Kühnert haben das in diesem Jahr getan und das war gut so, nicht nur für sie, ihre Parteien. Sondern auch für das Land. Spahn hat ein riskantes und recht aussichtsloses politisches Manöver mit „schon wegen meines eigenen Schwulseins“ begründet. Kevin Kühnert nutzt ausgerechnet seine Bewerbung zum stellvertretenden Parteivorsitzenden der Partei, die sich immer mehr genervt von Minderheitenthemen zeigt, zur Formulierung, das Credo seiner Partei bezüglich individueller Freiheiten zeige ausgerechnet dort
wo Schwule, Lesben, Intersexuelle und Transgender sie selbst sein können in unserer Gesellschaft. Offen über die Straße gehen können ohne Angst zu haben, angegriffen und angefeindet zu werden, wo tatsächlich gleiche Lebenschancen für alle bestehen.
Es gibt viele Gründe, warum ein Schwuler so etwas anders sagen kann als ein Hetero. Und deswegen ist es gut, dass es ein Schwuler gesagt hat. Und deswegen ist es gut, dass es genau dieser Schwule gesagt hat.
Es ist eben nicht egal. Auch deswegen war 2019 bei allem Schlimmen auch ein gutes Jahr!
Ein persönliches Wort zum Schluss:
Dies war das zehnte Jahr dieses Blogs und es war ein sehr turbulentes, turbulent auch, weil nicht nur die Aufmerksamkeit, sondern auch die Angriffe, Unterstellungen und Verdrehungen der hier geführten Debatten einen neuen Höhepunkt erreicht haben. Auch deshalb möchte mich ganz herzlich bei allen AbonnentInnen bedanken, die dieses Jahr mit ihren monatlichen Beiträgen dieses Blog in dieser Form mit ermöglicht und vor allem für alle LeserInnen und Leser frei zugänglich und ohne jede Form von Einschränkung und Werbung gehalten haben. Durch diese Unterstützung konnte es gelingen, viele Debatten intensiv zu führen, nachzuhaken, dranzubleiben. Sich zu wehren. Die AbonnentInnen haben davon keinen persönlichen Vorteil, es gibt hier keinen exklusiven „Mitgliederbereich“, sie tun es für die gemeinsame Sache: Sie tun es, ohne Ansprüche an dieses Blog zu richten und im Wissen, dass hier nicht nur ihre Meinung vertreten wird, sondern wohl sehr oft auch das Gegenteil. Danke dafür! Wer die Arbeit unterstützen, wer dabei sein möchte: Für alle „Gold-Abonnenten“gibt es einmal im Jahr ein gemeinsames Pasta-Essen in Berlin, wo wir natürlich auch über die Themen des Blogs debattieren. Ich habe das letzte Mal sehr viel gelernt … . (Das aktuelle Pasta-Essen ist schon überfällig und wird im Zeitraum Ende Januar / Anfang Februar 2020 stattfinden. Ich freue mich auf Euch.)
Danke an alle AbonnentInnen, aber natürlich danke an alles Leserinnen und Leser für die Treue, Kritik und Anregungen! Auf ein solidarisches, starkes, queeres Jahr 2020!
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